Blut ist dicker

Kurzprosa | John von Düffel: Wassererzählungen

Das eisige Wasser der winterlichen Ostsee, ein riesiges Aquarium, ein zweckentfremdeter Gartenteich und ein Kreuzfahrtschiff im Nordmeer sind Kulisse und Schauplatz von John von Düffels prickelnden Wassererzählungen. Wen wundert es da noch, dass der Autor ein passionierter Schwimmer ist? Von INGEBORG JAISER

Düffel Wassererzählungen
Zugegeben: ich habe eine Wasserphobie. Alles, was die Größe meiner eigenen Badewanne überschreitet, erzeugt latente Angstgefühle. Angst vorm Abtauchen, Untergehen, Versinken.

Allein schon die Lektüre eines Dutzend Geschichten, die sich allesamt diesem Element widmen, erscheint mir mutig. Und ruft dann doch eher Überraschung und Verblüffung hervor. Der Schrecken bleibt – wenn überhaupt – subtil, unterschwellig, schwer fassbar.

Pool-Hostessen und Moormädchen

Genau genommen hat das nasse Element nicht den Hauptanteil an John von Düffels Wassererzählungen, ist eher schmückendes Beiwerk, Kulisse, Grundierung, Nebenschauplatz. Obgleich uns die erste Geschichte seines Erzählbandes gleich gehörig ins kalte Wasser wirft. Hier ringt ein Schwimmer der eisigen winterlichen Ostsee ein Stück Leben ab, indem er sich trotz des Sogs »ins Offene« an den Strand zurückkämpft. Grund ist ein alter Mann, der dort im Sand gräbt. Weshalb und wonach, begreifen wir erst mit dem allerletzten Satz.

Die Vorschwimmerin wiederum sucht eine Nachfolgerin für ihren Job als »Pool-Hostess« und wirbt mit missionarischem Eifer für den erotisch-exotischen Dienst in einem riesigen Aquarium. In den restlichen Stories bleibt das Wasser mal Metapher und Sinnbild, mal überraschendes Element einer kunstvoll arrangierten Szenerie: auf Kreuzfahrtschiffen, in Moorlandschaften, in einem Hausteich oder bei strömendem Regen. Und nicht zuletzt fungiert das Wasser als Spiegelbild für menschliche Tragödien, für Prozesse des Verlustes und des Abschiednehmens. Denn fast allen Erzählungen liegen Beziehungsgeschichten zugrunde, vermeintlich alltägliche Vater-Mutter-Kind-Konstellationen, jedoch im extremen Rahmen von Tod, Geburt, Behinderung. Ist Blut dicker, tragfähiger als Wasser?

Entfremdungen und nostalgische Anwandlungen

Nicht immer tragen die Familienbande. Eine erwachsene Tochter besucht ihren sterbenden Vater und muss erkennen, dass ihm die osteuropäische Pflegekraft näher steht. Ein geschiedener Ehemann unternimmt mit seiner pubertierenden Tochter eine teure Nordmeerkreuzfahrt und erlebt resignierend: »Familie, dieser ganze Fortpflanzungsverbund zwischen den Generationen, existiert bloß noch als nostalgische Anwandlung.« Und eine schwangere Frau gaukelt ihrem Mann Normalität vor, obwohl das Kind in ihrem Leib seit Tagen tot ist.

John von Düffel variiert in den elf Geschichten dieses Erzählbandes wieder einmal sein Lebensthema, das er seit seinem Romandebüt Vom Wasser (1998) konsequent fortführt. Er erzählt bestechend präzise und klar, schnörkellos und ohne Ausschweifungen – mal aus der Ich-Perspektive, mal in der dritten Person, mal als Dialog verpackt. Seiner variantenreichen Ausarbeitung, den ungewöhnlichen Sichtweisen und Blickrichtungen ist durchaus die Nähe zum Theater und zum Hörspiel anzumerken.

So hat John von Düffel auch drei seiner Wassererzählungen für die Bühne verdichtet (im Dezember 2014/ Januar 2015 zu sehen im Hans-Otto-Theater in Potsdam). Auch wer keine Gelegenheit zu einem Theaterbesuch hat, kann genüsslich und entspannt in die Lektüre der höchst unterschiedlichen, allesamt jedoch sehr anregenden Erzählungen eintauchen.

| INGEBORG JAISER

Titelangaben
John von Düffel: Wassererzählungen
Köln: Dumont 2014
254 Seiten. 19,99 Euro

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Von der Kröte aus der Kirche gelockt

Nächster Artikel

Das Trauma von Abu Ghraib

Weitere Artikel der Kategorie »Kurzprosa«

Vertrieben

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Vertrieben

Hast du Sergej kennengelernt, Wette?

Sergej?

Aus Murmansk.

Wo soll ich ihn kennengelernt haben?

Am Toten Meer.

Ich war nie am Toten Meer.

Farb tat sich eine Pflaumenschnitte auf.

Leben und Mythos

Kurzprosa | Kenzaburô Ôe: Licht scheint auf mein Dach »Ich muss zugeben, dass wir manchmal, besonders ich, die Wut über unseren behinderten Sohn nicht unterdrücken konnten«, heißt es im schonungslos offenen, autobiografischen Band ›Das Licht scheint auf mein Dach‹ (2014) aus der Feder des Literatur-Nobelpreisträgers Kenzaburô Ôe. Er beschreibt darin, wie die Geburt seines Sohnes Hikari sein Leben veränderte, wie er gemeinsam mit seiner Frau vor der schwierigen Frage stand, einer komplizierten Kopfoperation zuzustimmen. Heute ist Hikari Oe über 50 Jahre alt und in Japan ein angesehener Komponist klassischer Musik. Zum 80. Geburtstag des Literatur-Nobelpreisträgers Kenzaburô Ôe am 31. Januar

Sut erzählt (2)

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Sut erzählt (2)

Als sich seit 1848 die Nachricht verbreitet habe, in der Wildnis um Sutters Mühle sei Gold zu finden, habe das Land einen nie erlebten Bevölkerungszuwachs erlebt. Kaum zwei Jahre seien vergangen, da hätten, sagte Sut, schon neunzigtausend Menschen in Kalifornien gelebt, und zwanzig Jahre später sage und schreibe eine halbe Million.

Allesamt eingewandert, fragte Bildoon.

Der beste Ort, sich aufzuhalten, sei das Meer, konstatierte Pirelli.

Ein X oder ein U

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Ein X oder ein U

Wenn nichts sonst, sagte Gramner, so müsse man doch das Ausmaß an Selbsttäuschung schätzen, zu dem der Mensch fähig sei.

Ein Scherz, sagte der Ausguck und lachte lauthals, er war guter Stimmung und hatte Lust, einen Salto zu schlagen.

Harmat blickte verständnislos.

Interessant, sagte LaBelle, beugte sich über die Reling und blickte hinaus auf die Lagune und die Einöde, die sie umgab und sich bis zum Horizont erstreckte, ein trostloser Ort.

Touste hielt die Augen geschlossen und träumte.

Dabeisein

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Dabeisein

Wie es sich anfühle, fragte Bildoon, am eigenen Untergang teilzunehmen.

Vergiß es, sagte Touste.

Blöde Frage, sagte Crockeye, als Seemann bin ich jederzeit darauf gefaßt, daß mein Schiff sinkt und ich mit, da fühlt sich nichts an.

Bildoon spricht nicht von der Seefahrt, sagte Pirelli.

Sondern, fragte Rostock.