Von der Kröte aus der Kirche gelockt

Roman | Joyce Carol Oates: Die Verfluchten

»Ich habe all diese hässlichen Wörter einfach hingeschrieben und bin dabei allmählich in Fahrt gekommen. Ein stiller Schreibrausch hat mich erfasst.“, ließ die amerikanische Schriftstellerin Joyce Carol Oates eine Figur in ihrem Roman Zombie (dt. 2000) erklären. Ob es beim Lesen des neuen Romans Die Verfluchten ebenfalls zu einem »rauschhaften« Erleben kommt, erklärt PETER MOHR

Verfluchten»Wenn ich nicht schreibe, dann lese ich.« Unendlich viel hat die inzwischen 76-jährige Autorin Joyce Carol Oates schon geschrieben, zuletzt zwei bewegende autobiografische Romane, und in den letzten Jahren war sie sogar als heiße Nobelpreiskandidatin gehandelt worden.

Schon als Schülerin soll sie die ersten Geschichten verfasst haben, als junge Studentin (so die Legende) schrieb sie pro Semester einen Roman, die Veröffentlichung ihres ersten Bandes mit Kurzgeschichten liegt schon fast fünfzig Jahre zurück, und bereits 1969 erhielt sie für den Roman Them den National Book Award.

Inzwischen sind es rund 60 (publizierte) Romane, über 100 Kurzgeschichten, dazu zahllose Essays, Theaterstücke, Drehbücher, Kritiken und wissenschaftliche Aufsätze. Kann man da noch unbekanntes literarisches Terrain erobern?

Joyce Carol Oates hat dies offensichtlich zumindest versucht – mit einer Mischung aus Gesellschaftskritik, Schauergeschichte und historischer Klatsch- und Tratschstory. Über dreißig Jahre soll die Autorin an diesem umfangreichen Wälzer, der uns an den Anfang des 20. Jahrhunderts versetzt, geschrieben haben. Wir befinden uns in den Jahren 1905/1906, als die bekannte Universitätsstadt Princeton (dort lebt Oates seit fast vierzig Jahren) in Aufruhr gerät, weil sich allerlei schaurige, unerklärliche Dinge zutragen.

Annabel Slade, die Enkelin des einstigen Uni-Präsidenten Winslow Slade, wird während ihrer Trauung aus der Kirche entführt. »So wendet sich die Braut blicklos von ihrem Bräutigam ab, lässt ihr Blumenbouquet zu Boden fallen, sieht weder nach links noch nach rechts, sondern mit starrem Blick zu der gebieterischen Gestalt in der Tür, eilt mit der beschädigten Anmut eines verletzten Vögelchens durch den Gang, die Lippen zu einem verführerischen Lächeln leicht geöffnet.“ An dieser Stelle ließe sich schon trefflich über die »Anmut eines verletzten Vögelchens« streiten, doch hier geht es nicht nur sprachlich, sondern auch inhaltlich reichlich verwegen zu.

Die junge Annabel wird nämlich von einem krötenähnlichen Dämon aus der Kirche gelockt. Dies ist so etwas wie der Startschuss zu einer blutigen Geisterbahnfahrt, in deren Verlauf unglaubliche Verbrechen geschehen und auch noch zwei Geschwister der jungen Frau Slade ums Leben kommen.

Der Unhold verbirgt sich offensichtlich hinter vielen Masken oder in vielen Körpern. Er treibt sein Unwesen als Axson Mayte, Count English oder gar als leibhaftiger Sherlock Holmes, mal begleitet von einer aufreizenden Blondine, mal von einem schwulem Vampir.

Joyce Carol Oates erzählt diese ausufernde Klatsch- und Tratschgeschichte aus der Perspektive des fiktiven Historikers M.W. van Dyck II, der sich allerdings mehr und mehr als geschwätziger Wichtigtuer denn als faktenorientierter Wissenschaftler präsentiert.

Auch die Auftritte realer historischer Figuren wie US-Präsident Woodrow Wilson (1856-1924) und die beiden Schriftsteller Upton Sinclair und Jack London können diesen Roman nicht retten. Auch diese Episoden sind allzu stark auf vordergründige Effekte und Polemik ausgelegt. Der von diversen Krankheiten gezeichnete Wilson konsumiert eine Menge Drogen und pumpt sich in der Folge selbst den Magen aus.

Upton Sinclair und Jack London werden auf ziemlich banale Art und Weise gegeneinander ausgespielt: der eine ist naiv, ehrlich und bescheiden (Sinclair), der andere wichtigtuerisch, rassistisch und dem Alkohol verfallen. Im dramaturgischen Finale gibt es sogar noch den waghalsigen erzählerischen Salto zum Krimi. Ein honoriger Bürger von Princeton entpuppt sich dabei als Leichenschänder. Am Ende der Lektüre ist man als Leser erleichtert und (die Anleihe zum Titel sei erlaubt) »verflucht« im Nachhinein die Opulenz dieses Romans.

Die viel zitierte dichterische Fantasie hat Joyce Carol Oates bis über die  Schmerzgrenze hinaus ausgereizt und ein schauriges, völlig disparates literarisches Monstrum vorgelegt. Alles andere als eine Empfehlung für den Nobelpreis.

| PETER MOHR

Titelangaben
Joyce Carol Oates: Die Verfluchten
Aus dem Amerikanischen von Silvia Morawetz
Frankfurt/M.: S. Fischer Verlag 2014
750 Seiten. 26,99 Euro

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Glaubenssache

Nächster Artikel

Blut ist dicker

Weitere Artikel der Kategorie »Roman«

Urlaub auf der Body-Farm

Roman| Simon Beckett: Leichenblässe

Die eine Buchhandelskette schaltet zum Erscheinen Radiospots, der andere Filialist räumt den drei bis dato erschienen Bänden eine ganze Regalwand zur Präsentation ein und in den Bestsellerlisten gelingt ihm auf Anhieb der Sprung an den ›Biss‹-Büchern von Stephenie Meyer vorbei unter die ersten drei – die Rede ist von Simon Becketts drittem Thriller um den forensischen Anthropologen David Hunter mit dem schönen Titel ›Leichenblässe‹. Ist angesichts des großen Werbeaufwands der Roman tatsächlich die Mühe des Lesens wert? Nein, sagt BEATE MAINKA

Erotik oder Fernsehen?

Roman | Helmut Krausser: Trennungen, Verbrennungen »In Wahrheit bin ich absolut größenwahnsinnig. Ich wollte immer der beste Schriftsteller überhaupt werden. Als ich es dann geschafft hatte, war es gleich langweilig«, hatte Helmut Krausser vor einiger Zeit in einem Interview bekannt. Understatement ist nicht seine Sache, Krausser mag die klare Kante und das offene Wort. Der Schach- und Backgammon-Liebhaber, der mit gerade einmal 54 Jahren nun schon seinen 16. Roman vorlegt und der darüber hinaus auch äußerst fleißig Erzählungen, Gedichte, Tagebücher, Opernlibretti, Hörspiele und Theaterstücke veröffentlichte, pendelt oft und gern zwischen hohem künstlerischen Anspruch und klischeehaften Vereinfachungen. Hier sein neuester Roman

In Ungnade gefallen

Krimi | Qiu Xiaolong: Schakale in Shanghai Oberinspektor Chen Cao ist wieder da. Wenn auch nicht ganz. Denn der in seiner Freizeit als Dichter und Übersetzer tätige Mann ist von seinem Posten bei der Shanghaier Polizei entfernt worden. Plötzlich sieht er sich als Direktor an der Spitze eines Komitees für Rechtsreformen. Und weiß nicht, wem er diesen merkwürdigen »Aufstieg« zu verdanken hat, der ihn und die Seinen alsbald ins Fadenkreuz mächtiger Männer ohne jeden Skrupel befördert. Schakale in Shanghai heißt das neue Buch von Qiu Xiaolong. Eine Rezension von DIETMAR JACOBSEN

Eine Liebeserklärung an die Ewige Stadt

Roman | Pier Paolo Pasolini: Ragazzi di vita Klaus Wagenbach hat zum 50-jährigen Verlagsjubiläum letztes Jahr Pier Paolo Pasolinis Ragazzi di Vita in einer Neuauflage herausgebracht. – TITEL kulturmagazin gratuliert dem »Verlag mit der Tür nach Italien«. Von HUBERT HOLZMANN

Entgegen der Schwerkraft

Roman | Joachim Meyerhoff: Man kann auch in die Höhe fallen

Das kann noch nicht alles gewesen sein, ahnt man nach dem letzten Band aus Joachim Meyerhoffs autobiographischem Zyklus Alle Toten fliegen hoch. Nach einem Schlaganfall und emotionalen Ausnahmesituationen flieht der Schauspieler zurück zum mütterlichen Rückzugsort. Nicht nur im familiären Kosmos liegt vieles nah beisammen: Komik und Tragik, Übermut und Absturz, doch Man kann auch in die Höhe fallen. Von INGEBORG JAISER