Alles den Bach runter

Roman | Kerstin Preiwuß: Nach Onkalo

Er ist ein Spezialist für die Großwetterlage und scheitert an den kleinen Dingen. Er hat seine Mutter verloren und findet so etwas wie eine neue Familie. Man nennt ihn Matuschek und kennt nicht seinen Vornamen. Nach Onkalo ist vielleicht sein letztes Ziel, nur ein vermeintlicher Sehnsuchtsort. Kerstin Preiwuß inszeniert ihren zweiten Roman in einem vergessenen Landstrich der Verlierer und Abgehängten. Von INGEBORG JAISER

Preiwuß - Nach OnkaloEines Morgens steht Mutter nicht mehr auf, bleibt einfach liegen. Sie ist tot. Matuschek registriert es eher mit Empörung, denn mit Entsetzen. Wer soll ihn nun wecken, seine Wäsche waschen und die Brote schmieren? Mit 40 ist Matuschek nicht der Hellste, nicht der Schnellste und hat immer noch keine Frau. Woher auch, in diesem abgehängten Landstrich der mecklenburgischen Provinz, in dem erst das Krankenhaus geschlossen wurde, dann der Bäcker und es bald auch keine Schulbusse mehr geben wird?

Zum Glück trägt noch ein brüchiges, löchriges Netz an Verpflichtungen: die Schichtarbeit als Wetterbeobachter am nahen Flughafen (»Wenn der Kapitän vor dem Flug den Passagieren sagt, wie das Wetter ist, dann hat er das von mir«) und die Sorge um die Tauben. »Auf seine Tauben kann er sich verlassen. Die kommen wieder und wenn nicht, liegt das nicht an ihm, sondern am Habicht oder an den Windrädern, die mittlerweile wie Pilze aus dem Boden schießen

Man muss zufrieden sein

Eine kleine Ersatzfamilie formiert sich um Matuschek herum. Mit dem väterlichen Freund Witt, ausgemusterter Ex-Mitarbeiter des Atomkraftwerks Lubmin, ruppig, wortkarg, lungenkrank. Und mit dem lebenstüchtig-lakonischen Russen Igor, der im Nachbarhaus wohnt und (nur scheinbar) die besseren Karten hat: eine Ehefrau, ein größeres Boot, immer Wodka im Schrank. Und dann kommt auch noch Irina ins Spiel, die ihren Knoblauchatem mit süßlichem Parfum übertüncht und in schiefen Absätzen durchs Leben stiefelt. »Es ist Sommer, Matuschek hat frei und Irina ist da. Das ist genug, dass alles andere dahinter verblasst. Man muss zufrieden sein, mit dem was man hat. Matuschek ist es gerade sehr.«

Die Autorin Kerstin Preiwuß, geboren und aufgewachsen in Mecklenburg-Vorpommern, kennt genau die Szenerie, durch die ihre Romanfigur Matuschek taumelt. Die unermessliche Landschaft, der hohe Himmel, die weite Seenplatte, aber auch eine Selbstvergessenheit und Lebensabgewandtheit, die nur hier bestehen kann. »Wenn die Welt untergeht, so ziehe ich nach Mecklenburg, denn dort geschieht alles 50 Jahre später«, soll schon Bismarck gesagt haben.

Tauben und Fische

Doch der gemächliche Verzug kann nicht verhindern, dass auch hier andere Zeiten heranbrechen. Das Zwischenhoch in Matuscheks Leben erweist sich als wechselhaft und instabil. Ein Sommergewitter läutet den Abgesang ein. Nach und nach bröckeln die Beziehungen, sterben die Wahlverwandten, bricht der Job weg. Zurück bleibt ein verwirrter, verstörter, zunehmend verwahrlosender Matuschek. Verängstigt zieht er sich in Igors Bootshaus zurück und sucht Trost bei den letzten Fixpunkten seines Lebens: »Den Fischen macht es nichts aus, dass alles den Bach runtergeht. Die schauen nicht nach oben. Es sind eher die kleinen, die an seiner Angel hängen.«

Streckenweise könnte der unbeholfene Matuschek ein entfernter Cousin sein von Arnie aus Gilbert Grape oder von Annette Pehnts Dorst aus Ich muss los. Dass der schräge Sonderling letztendlich doch noch die Kurve kriegt, gehört zu den versöhnlichen Wendungen dieses versteckten Entwicklungsromans, den Kerstin Preiwuß still und ruhig inszeniert, mit dem trügerisch poetischen Unterton einer Lyrikerin. Nach Onkalo hört sich vielleicht so aufbruchsstark-visionär an wie die Walachei in Tschick – wenn man nicht in Erfahrung brächte, dass es sich dabei um ein unterirdisches Atom-Endlager in Finnland handelt.

| INGEBORG JAISER

Titelangaben
Kerstin Preiwuß: Nach Onkalo
Berlin: Berlin Verlag 2017
229 Seiten, 20.- Euro
| Erwerben Sie dieses Buch portofrei bei Osiander

Reinschauen
| Leseprobe

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Loose Legs, Train Tunnels and Acid Love: 2017 Tracks Of The Year

Nächster Artikel

Frag nicht, was dein Wichtel für dich tun kann …

Weitere Artikel der Kategorie »Roman«

Bevor das alles war im Leben

Roman | Hendrik Groen: Lieber Rotwein als tot sein

Für den einen ist es New York, wo er noch niemals war und gerne hinmöchte, für den Anderen ist es die Toskana, selbst dann, wenn er dafür sterben müsste. Sterben? Na, sie werden das gleich verstehen und einordnen können, denn der Niederländer Hendrik Groen entführt in eine ebenso bezaubernd simple wie schwungvolle und äußerst vergnügliche Geschichte. Arthur Ophof heißt der Held dieser Geschichte und Barbara Wegmann erzählt, was er sich Verrücktes ausgedacht hat. Von BARBARA WEGMANN

Mit dem Schwarzgeld aus dem Paradies

Roman | Martin Lechner: Kleine Kassa

Der Salzburger Residenz Verlag überrascht – beinahe möchte man sagen wie immer mit gewohnter Zuverlässigkeit – mit einem außergewöhnlichem Roman. Der aus Norddeutschland stammende Schriftsteller Martin Lechner hat mit Kleine Kassa ein recht temporeiches und humorvolles Debüt vorgelegt, das zwar als »Heimatroman« auf dem Buchumschlag angekündigt wird, allerdings jegliche regionale Klischees und alle biedere Sentimentalität durchbricht. Von HUBERT HOLZMANN

Eine wunderbare Wiederentdeckung

Roman | John Williams: Stoner Der amerikanische Autor John Williams, 1994 in Arkansas verstorben, ist einer der ganz Großen der Weltliteratur. In seinen Büchern wählt er allerdings keine großen Symbolfiguren, und er erzählt nicht auf der »Gipfellinie« des klassischen Kanons. Seine Bücher spielen fernab vom Weltgeschehen, schildern das Unscheinbare der Provinz. Vielleicht ein Grund dafür, warum sein 1967 erstmalig erschienener Roman Stoner in Vergessenheit geriet. Bei seiner posthumen Wiederauflage wurde er zum absoluten Welterfolg. Zu Recht! – findet HUBERT HOLZMANN.

Kalt – sonst ohne Eigenschaften

Roman  | Robert Schindel: Der Kalte Robert Schindel legt seinen zweiten druckfrischen Roman Der Kalte vor: ein Monumentalwerk zur Zeitgeschichte Österreichs der Jahre 1985 bis 1989, Jahre der Aufarbeitung der Shoa, aber auch ein Roman, in dem sich Opfer und Täter aufs Neue begegnen. Schindel setzt hier fast 30 Jahre später ein neues Denkmal am und für Heldenplatz – findet HUBERT HOLZMANN.

Geboren, um zu sterben

Roman | Malin Schwerdtfeger: Delphi

In ihrem zweiten Roman ›Delphi‹ kreist Malin Schwerdtfeger um das Leben in fremden Kulturkreisen und um die Gratwanderung zwischen Außenseitertum und Anpassung. Von PETER MOHR