Ein wertvolles Buch ist aus der Washingtoner Kongressbibliothek verschwunden: Plinius‘ Historia naturalis. Und mit dem Folianten zusammen der beste Detektiv der Westküste, Jack Marsh. Er sollte die Leihgabe zu ihrer Besitzerin zurückbringen, was offenbar schiefging. Nun melden sich die Diebe, um über den teuren Rückkauf ihrer Beute zu verhandeln. Und da kommt ein Mann ins Spiel, der spezialisiert auf »Vermittlungen« der besonderen Art ist: Philip St. Ives, Ross Thomas‘ notorisch in Geldnöten sich befindender Lebemann mit einer Leidenschaft fürs Pokern und dem Ruf, sich von niemandem linken zu lassen. Allein diesmal laufen die Dinge nicht so einfach wie gedacht. Von DIETMAR JACOBSEN
Fünf Philip-St.Ives-Romane hat Ross Thomas unter dem Pseudonym Oliver Bleeck zwischen 1969 und 1976 geschrieben. Keine weiteren Fragen – im Original No Questions Asked – war der letzte. Wie immer erlebt der Leser St.Ives auch hier wieder als Vermittler zwischen Vertretern der Unterwelt und den von ihnen Geschädigten. Denn oft ist es besser für die Eigentümer, Gestohlenes zurückzukaufen und damit Verluste zu minimieren, als den Gegenstand, an dem sie vielleicht auch emotional hängen, für immer aus ihrem Leben verschwinden zu sehen.
Um ein Buch von einigem Wert dreht es sich in Keine weiteren Fragen, die Historia naturalis des römischen Naturforschers, Enzyklopädisten und Schriftstellers Gaius Plinius Secundus (23 – 79 n. Chr.). Gedruckt Mitte des 15. Jahrhunderts in Venedig, war der mehr als 10 Kilo schwere Foliant zuletzt als Leihgabe aus dem Besitz eines mit Uranfunden reich gewordenen und sein Geld in Kunst sowie seltene Bücher anlegenden Kaliforniers an die Washingtoner Kongressbibliothek ausgeliehen gewesen.
Allein nach dem Tod des Millionärs will dessen Tochter das Buch zurückhaben, weil ihre aktuelle finanzielle Situation nicht allzu rosig aussieht und sie sich von einem Verkauf des Plinius ein paar weitere Monate des Lebens, das sie gewohnt ist, verspricht. Von der Ost- an die Westküste überführen soll das teure Stück ein enger Vertrauter der Dame, der Detektiv Jack Marsh, dem man nachrühmt, einer der besten seines Faches zu sein. Doch mit dem Buch gerät auch Marsh in die Hände von Entführern, die offensichtlich nicht zu Späßen aufgelegt sind und den Mann als Sicherheit für das Geschäft, welches sie planen, erst einmal festsetzen.
Gesucht werden: ein seltenes Buch und ein Privatdetektiv
250.000 Dollar verlangen die Diebe jedenfalls anschließend für die Rückgabe des Artefakts, die Hälfte der Summe, mit der es bei einer Gesellschaft in Los Angeles versichert ist, deren Spezialität das »Arsch- und Titten-Geschäft« darstellt, also die Versicherung jener Körperteile, auf die besonders achten muss, wer in und um Hollywood Erfolg haben möchte.
Deren schwergewichtiger Vertreter taucht denn auch ziemlich bald in Washington auf, um St.Ives, der sich auf ein stattliches Honorar für seine Dienste freuen darf, mit einem Koffer voller Dollarnoten auszurüsten. Doch obwohl Thomas‘ Held weiß, dass Kidnapper »moralisch wie emotional deutlich gestörter [sind] als der gewöhnliche Dieb«, also Vorsicht bei der Übergabe des Geldes und der Entgegennahme von Buch und Detektiv durchaus angebracht sein dürfte, tappt er in eine Falle. Als er schließlich wieder in der Lage ist, klar zu denken, hat er einen Brummschädel, Lösegeld und Buch sind verschwunden und Jack Marsh weilt nicht mehr unter den Lebenden. Also alles zurück auf Anfang!
Wie immer bei Ross Thomas erscheinen, gruppiert um seinen zentralen Helden, eine ganze Reihe von Protagonisten, für die der Autor jeweils nur ein paar Sätze benötigt, damit sie vor den Augen der Leser Gestalt gewinnen. »Ginge es nicht um seine Frau, die Kinder und das Geld, […], wäre er am liebsten ein aalglatter Strafverteidiger gewesen, der auffällige Anzüge trug und dessen Name ständig in der Zeitung stand«, heißt es da etwa lakonisch über Myron Greene, den Mann, der St. Ives all die lukrativen Aufträge beschafft, die Thomas‘ Held letztendlich in die Lage versetzen, seinen dandyesken Lebenswandel zu finanzieren.
Und an Herbert Fastnaught, Ex-Bulle und alter Bekannter St. Ives‘, fällt diesem bei ihrer Wiederbegegnung in Washington auf: »Als ich ihn das letzte Mal gesehen hatte, war er ein jungenhafter, kaugummikauender Detective Sergeant mit rosigem Teint im Raubdezernat der Metropolitan Police gewesen. Jetzt kaute er an einer dicken, nicht angezündeten Zigarre, und die rosigen Wangen hingen schlaff herunter, während das lockige Blondhaar an den Seiten ergraut war und oben Lücken zeigte.«
Mehr braucht es wahrlich nicht, um über die Beschreibung einiger Äußerlichkeiten auch einen Blick auf die innere Verfasstheit einer Figur zu werfen, der das Glück in den letzten Jahren nicht unbedingt hold war. In diesem Fall ist die knappe Charakterisierung erst recht genug, weil Fastnaught, der sich an St. Ives hängt, weil er endlich wieder selbst einen Erfolg braucht, das Ende der Jagd auf den entführten Folianten leider nicht mehr erlebt.
Mit Charakterisierungskunst und Dialogwitz
Natürlich kommt auch das, wofür Ross Thomas immer wieder gerühmt wird, sein Interesse an den dunklen Ecken des amerikanischen Politikbetriebes, an all den kleinen Mauscheleien, großen Intrigen und den Leichen im Keller, die viele auf dem Weg nach oben hinterlassen, in Keine weiteren Fragen nicht zu kurz. Und auch wenn der vorliegende Roman nicht zu den besten eines Autors zählt, der erst 1966, mit 40 Jahren, zum Schreiben fand und bis zu seinem Tod im Jahre 1994 noch ganze 25 Romane verfasste, nehmen doch Ross Thomas‘ locker-ironischer Erzählstil, sein Dialogwitz und der überaus kritische Blick auf seine Zeit immer wieder für ihn ein.
Inzwischen ist uns der für die verdienstvolle und vor allem ungekürzte Neuausgabe verantwortliche Berliner Alexander Verlag nur noch vier Romane schuldig – darunter die Fälle 3 und 4 der Philip-St. Ives-Reihe. Dann hat man sie alle beisammen. Und darf anschließend mit dem Lesen von vorn beginnen – es lohnt sich auf jeden Fall.
Titelangaben
Ross Thomas: Keine weiteren Fragen
Ein Philip-St.Ives-Fall
Aus dem amerikanischen Englisch von Henner Löffler und Gisbert Haefs
Berlin: Alexander Verlag 2021
247 Seiten, 16 Euro
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