Kinderbuch | Michelle Houts: Raureifzauber
Heinzelmännchen sind dazu da, den Menschen zu helfen. Diese traditionelle Behauptung stellt Michelle Houts hier einmal auf den Kopf. Heraus kommt eine Geschichte mit eigener Magie, gerade richtig für stille Stunden daheim an unfreundlichen Wintertagen. Von MAGALI HEIẞLER
In der Regel glauben Menschen nicht an Wichtel. Das bleibt Kindern überlassen oder ganz alten Leuten. Dabei gibt es sie, diese Wichtel. In Dänemark ganz besonders. Schließlich muss jemand auf die Bauernhöfe aufpassen und die Tiere. Dass man dafür etwas Dankbarkeit erwartet, versteht sich. Ein Schüsselchen Reisbrei am Weihnachtsmorgen ist ja wohl machbar. Mit einem Klecks Butter obendrauf, bitteschön.
Das war der Brauch auf dem Larsen-Hof auf der Insel Lolland, solange Großvater lebte. Aber er ist gestorben. Seine Enkelin Bettina ist immer noch traurig, obwohl es schon ein Jahr her ist. Nun ist es wieder Weihnachten. Recht freuen kann sie sich nicht. Als kurz darauf die Eltern wegfahren und sie mit Schwesterchen Pia für ein paar Tage allein bleiben muss, ist das vergessen. So vieles muss erledigt werden im Stall und im Haus. Leider vergisst sie auch ein gewisses Schüsselchen Reisbrei.
Wichtel Klakke kann es nicht fassen. Niemand denkt an ihn? Er wird sich in Erinnerung bringen! Dass sein Ärger für solche Verwicklungen sorgen würde, hätte Klakke nie erwartet. Nicht nur Menschen haben Probleme, Wichtelfamilien nämlich auch. Und dann fällt über Nacht der zauberische Raureif.
Andere Welten und doch nicht fremd
Die Welt, in der Houts ihre Geschichte spielen lässt, ist gleich zweifach fremd. Obwohl es Autos und auch Telefon gibt, wirkt schon der Larsen-Hof wie aus der Zeit gefallen. Ein kleiner Bauernhof mit Viehwirtschaft in der Nähe eines Walds, geheizt wird mit Brennholz. Einige der Details, die Houts fast zu ausschweifend liefert, werden Kinder von heute staunen lassen. Noch liebevoller ist die Welt der Wichtel ausgemalt, in der die Heldin der Geschichte unversehens gerät. Niedlich ist nichts daran, der Sinn der Autorin ist aufs Praktische gerichtet. Humor und Überraschungen fehlen nicht. Die Wichtel sind klassische Selbstversorger, erfinderisch nützen sie die Schätze des Walds wie die Menschen tatsächlich auch. Man gehört zusammen, irgendwie, die großen und die kleinen Wesen.
Verwandt ist man auch im Denken und Fühlen. Dass Klakke auf dem Larsen-Hof gelandet ist, hat seinen Grund und es ist kein schöner. Dahinter steht ein altes Wichtel-Versagen, aus dem ein Konflikt in seiner Familie resultierte. Klakke leidet nicht nur wegen des vorenthaltenen Reisbreis. Es gibt noch etwas, das er sehr vermisst. Aber Trotz und Beleidigtsein nehmen zunächst einmal die vorderen Plätze ein und so handelt er. Ein Streich führt zum nächsten, bis er etwas tut, das man nur schwer verzeihen kann.
Bettina muss sich nicht nur ihrer Trauer um den Großvater, sondern auch den Wichtel-Problemen stellen, in die sie durch Klakkes dummes Verhalten hineingerät. Tatsächlich sind die beiden sich nicht unähnlich, sie neigen zu Selbstmitleid und handeln gern spontan. Das verhindert, dass die menschliche oder die Märchenfigur unangreifbar weise und einsichtig gezeichnet wird. Alle machen Fehler, erfährt man bei der Lektüre, und es tut ganz gut, zuweilen einen Schritt zurückzutreten und eine andere Sichtweise auf die Dinge zuzulassen.
So schwer ist es, zu verzeihen
Nicht ganz gut beraten war die Autorin darin, hin und wieder eine Erzählerinnenhaltung einzunehmen, die zum Auktorialen neigt. Das rührt zugegebenermaßen zum einen daher, dass sie bemüht ist, den sehr fernen Kosmos vorzustellen, der Dänemark für ihre US-Leserinnenschaft ist. Zum anderen scheint sie zu versuchen, den gravitätischen Tonfall wiederzubeleben, den man mit dem Erzählen am warmen Ofen verbindet. Leider ist das Ergebnis eher altväterlich. Zudem verhindert es, dass Kinder sich eigene Gedanken machen über das, was sie zu hören bekommen. Man sollte ihnen mehr zutrauen.
Bettina macht es vor, sie handelt sehr selbstständig. Hilfe Erwachsener, der Nachbarsfamilie etwa, weicht sie geschickt aus. Sie hat ein Ziel und sie bemüht sich mit ihren Mitteln, es zu erreichen. Schuld lädt sie dennoch auf sich, jemanden vergessen ist ein großes Vergehen. Aufeinander achten, sich respektieren, die übertragenen Aufgaben bestmöglichst erfüllen, das gehört zu den versteckten Botschaften der Geschichte.
Dass Ältere ebenfalls Fehler machen, kommt auch zur Sprache. Vor allem geht es darum, wie schwer es ist, um Verzeihung zu bitten, zu verzeihen und Verzeihung anzunehmen. Die Facetten dieses Problems werden gründlich abgehandelt. Der Raureif, der über allem liegt, verleiht dem Ganzen eine besondere Magie.
Nicht immer geschickt vorgetragen, aber gut ausgedacht, schwerelos übersetzt und mit Feinsinn und Liebe illustriert, ist dieses Kinderbuch ein Fundstück für alle, die den Einheitsbrei verschmähen.
| MAGALI HEIẞLER
Titelangaben
Michelle Houts: Raureifzauber
(Winterfrost 2014, übers. von Dieter Fuchs). Ill. von Nina Schmidt
253 Seiten 17,00 Euro
Stuttgart: Urachhaus 2017
Kinderbuch ab 8 Jahren