Roman | Alois Brandstetter: Kummer ade!
Der österreichische Schriftsteller Alois Brandstetter beschwört in einem atemlosen Selbstgespräch und Anti-Lamento Kummer ade! eine beinahe phänomenologische Erkenntnis und bezwingt damit seine Wehklage über den verschwundenen Gegenstand. Entstanden ist ein Roman, welcher Zeit und Raum enthoben ist. Kummer ade! – artistisch, ungewöhnlich, ein amüsanter Zeitvertreib, findet HUBERT HOLZMANN.
Die historische Kriminalgeschichte kommt ohne Detektiv aus. Sherlock Holmes, dessen abenteuerliche Ermittlungsgabe bei seinen früheren Lesern und heutigen Kinobesuchern den erwünschten »thrill« auslöst, gehört nicht zu Alois Brandstetters Personal im neuen Roman Kummer ade! Das Corpus delicti zu drehen und zu wenden ist für den österreichischen Autor und emeritierten Philologen allein schon Vergnügen genug. So gibt es in seinem Roman Kummer ade! ganz im Gegensatz zu den Vorgängertexten keine Briefträger. Es rühren die Suppe diesmal auch keine Wirte und keine Köche an.
Denn in seinem brandneuen Buch sind wir Alois Brandstetter als Erzähler direkt ausgeliefert. Er selbst führt uns das Ganovenstück vor Augen: den Raub des Kummerkastens aus der Eingangshalle der »Don-Bosco-Kirche am Bischof-Josef-Köstner-Platz in Klagenfurt«. Mit ihm steigen wir ein ins Verbrechen, in das Allerheiligste, in seine Gedankenwelt. Ein Einstieg auch ins Geschehen? Das eher wohl nicht. Denn eine Handlung im eigentlichen Sinne gibt es nicht. Es gibt keine Verdächtigen, keine Zeugen, keinen Kläger. Brandstetter jedenfalls übernimmt diese Rolle nicht. Oder will er gerade doch all dies sein?
Der Kriminalfall als Exempel
Kummer ade! ist eine humoristische Collage, gestrickt aus einer Melange von Themen aus allen Sachgebieten, aus Wissenschaft und Schule, Geschichte, Biologie, Ökologie, Soziologie, Philologie, Anglistik. Aber auch Theologie, Latein und Mittelhochdeutsch dürfen nicht fehlen. Eine Zusammenstellung aus Zeitungsmeldungen, Nachrichten, Neuigkeiten, Gerüchten, Privates und Öffentliches, lokale Geschwätzigkeit und Allerweltsklugheit. Und im Zentrum: »Der Kummerkasten«.
Kummer ade! könnte man einen typisch österreichischen Roman nennen, werden doch neben heimatgeschichtlichen Anekdoten, alpenländische Motive und volkstümliche Bräuche durchaus verschiedenartige justiziable Tatbestände aus den neueren österreichischen Gerichtsblättern eingestreut: Brandstetter berichtet von mehreren Bagatell- und Kapitalverbrechen.
»Die Richter sollen ein Exempel statuieren! Genaugenommen ist die Justiz aber berufen, also post festum zu urteilen und nicht primär, abschreckend’ zu wirken. Sie muß von Berufs wegen ›gleich gültig‹ und ›gleichmütig‹ agieren und nicht, wie es sich die Empörten oft wünschen, ›Ratzfatz‹ praktizieren… Und manch der Empörten rufen auch Haltet den Dieb!, auch wenn ihnen nicht bewußt ist, daß sie selbstgerecht urteilen und sie, bei Lichte besehen, nicht viel besser sind als die angeprangerten ›Schlechten‹ und ›Bösen‹.«
Ganz nebenbei gibt es sogar literarische Seitenblicke: auf Thomas Bernhard, Peter Turrini, Josef Winkler. Kummer ade! ist ein Exempel für Vielfalt, für Variation, Assoziation. Analytisch-philologisch zusätzlich Brandstetters Blick auf Sprache, deren Gebrauch und tiefere, auch historische Bedeutung. So blättert er in alten Büchern und vergleicht den »Harmkrug« mit dem »Kummerkasten«: »Der ›Ackermann‹ [aus Böhmen] ist die wohl bedeutendste Kummerkiste der deutschen Literaturgeschichte. Und Wutbürger auch von heute, auch Leserbriefschreiber können daraus noch eine Menge lernen. Vor allem aus dem 24. Kapitel, das in einer Art Litanei eine pechschwarze Anthropologie des Todes bietet… Der Mensch [ist] ein übelriechender Harmkrug… Harmkrug! Klingt wie Kummerkasten.«
Metamorphosen und Stadtschreibergeschichten
Alois Brandstetter schlägt in seinem Roman über einen historischen Kriminalfall, wie es im Untertitel heißt, erzählerische Kapriolen. Es gibt keinen sichtbaren Erzählplan, keine Leitlinie. Es sind die Einfälle, denen Brandstetter folgt. Mal sehr eng an den Raub des Kummerkastens anschließend, mal eher weitläufig andockend. Mündlichkeit ist das versteckte Prinzip seiner Epik. So führt eines zum anderen: Brandstetter variiert den »Kasten«: Der Kummerkasten mutiert zur Blackbox, zur Schatulle, zum Sarg. Der Autor macht einen Exkurs zur Störung der Totenruhe, kommt auf den Sarkophag zu sprechen, und um das Ernsthaft-Bedrohliche sogleich zu durchbrechen, »lässt« er in »Alibikisten« »Dampf ab«.
Und der Inhalt des Kummerkastens? Darüber spekuliert Brandsteller mit seinen Lesern. Und lässt doch alles offen. Für diese Hinhaltetechnik, dieses Preisgeben und dennoch Verbergen entwirft er ein Bauprinzip, das an eine musikalische Form erinnert, die Rondoform. Denn wie in der Musik kommt Brandstetter in seinem Text immer wieder auf die Thematik, das Motiv des gestohlenen Kummerkastens zurück. Wie in Richard Strauss‘ symphonischer Schelmenweise Till Eulenspiegel ist es unüberhörbar.
Brandstetter entfernt sich thematisch und nähert sich zugleich wieder an, immer aus einer neuen Perspektive, mit neuen Einfällen, mal zufällig, mal direkt. Sein Text ähnelt einer Zusammenstellung von Ausstellungsstücken, Ausstellungsgeschichten. Und gleichzeitig nimmt Brandstetter das Thema auseinander, zerlegt, analysiert, dekonstruiert es. Den Kriminalfall, seine Geschichte, ein gedankliches Experimentieren.
Alois Brandstetter steckt für seinen Kriminalfall ein großes Stück Land ab. Er beschränkt sich nicht auf die Stadtgrenzen Klagenfurts. Er bereist Österreich und die ganze Welt. Und alles von seinem Schreibtisch aus. In seinem Kopf. Und die Lösung zum Finale? Wird nicht verraten. Kummer ade! – ein geistreiches Vergnügen für dunkle Herbststunden.
| HUBERT HOLZMANN
Titelangaben:
Alois Brandstetter: Kummer ade!
Roman über einen historischen Kriminalfall
St. Pölten, Salzburg, Wien: Residenz Verlag 2013
136 Seiten. 19,90 Euro