Schwimmen im Bewusstseins-Strom

Roman | Julia Wolf: Walter Nowak bleibt liegen

in Badeunfall zu einem unglücklichen Zeitpunkt setzt einen sportlichen Rentner außer Gefecht. Die folgenschwere Kollision wirft den geübten Schwimmer derart aus der Bahn, dass sein gesamtes Selbstverständnis ins Wanken gerät. Mehr noch: ›Walter Nowak bleibt liegen‹ – existenziell getroffen und innerlich verwundet. Julia Wolfs zweiter Roman überzeugt durch einen mitreißenden Gedankenstrudel. Von INGEBORG JAISER

Julia Wolf Walter Nowak bleibt liegenJa, man kennt sie: Diese sportiven, durchtrainierten, zähen Rentner, die tagtäglich ihre Bahnen ziehen, bei Regen und bei Sonnenschein – komme, was wolle. Walter Nowak ist einer von ihnen. Pünktlich jeden Morgen um acht betritt er das Schwimmbad, grüßt den Bademeister (der nie zurückgrüßt), legt sein Handtuch auf die erste Liege rechts, nimmt die immer gleichen Schritte bis zum Becken und gleitet ins Wasser.

1000 Meter jeden Morgen sind ihm heilig. 20 Bahnen, vor und zurück, konzentriert und unerbittlich. Walter pflegt seine Rituale, wie ein Fels in der Brandung. »Er hält sich eben fit«, konstatiert seine Ehefrau Yvonne und seufzt gespielt.

Der große Wumms

Doch eines Tages gerät Walters geregeltes Leben aus den Fugen. Eine Kleinigkeit, eine winzige Irritation ist es nur: ein langes schwarzes Haar, das sich beim Schwimmen in seinen Fingern verfängt. Er treibt in einen Strudel der Verunsicherung, des Missmuts, verliert seinen Rhythmus. Eine junge Mutter mit muskulösen Waden und rosa Badeanzug bringt ihn vollends aus der Contenance. Und dann der große Wumms! Walter prallt mit voller Wucht an den Beckenrand und verliert kurz das Bewusstsein. Schwindel, Ohnmacht, Gehirnerschütterung?

Nur mit äußerster Anstrengung und Selbstbeherrschung schafft es Walter, sich anzuziehen und nach Hause zu fahren. Dort bleibt er verletzt und entkräftet auf dem Fußboden des Badezimmers liegen, gequält von Bewusstseinstrübungen und Kontrollverlust. Ist die rote Flüssigkeit in seinem Gesicht Rote-Bete-Saft oder Blut? War nicht eben ein Schlüssel im Schloss zu hören? Doch Yvonne befindet sich auf einer mehrtägigen Konferenz – mit anderen Gutmenschen aus ihrem Verein.

Nicht mehr Herr seiner Sinne

Man sagt, während des Sterbeprozesses zöge das eigene Leben noch einmal im Zeitraffer an einem vorüber. Auch Walter imaginiert in dieser existenziellen Situation seine ganze Vergangenheit. Seine Kindheit in der Nachkriegszeit, die beiden Ehen, die problematische Vaterschaft. Es entspinnt sich ein imaginäres Gespräch mit Yvonne, in Hoffnung auf ihre baldige Rückkehr und im Kampf gegen die drohende Ohnmacht.

Gedankensplitter, Halbsätze, Fragmente und Erinnerungsbilder reihen sich aneinander, in assoziativer Manier, erst in ungeordneter, panischer Abfolge, dann in immer längeren Bewusstseinsströmen. Es ist, als ob sich Walter damit an sein Leben klammere, das schon vor dem Schwimmbadunfall durch eine belastende medizinische Diagnose in Schieflage geriet.

Stimmiges Gesamtkunstwerk

Die gesamte Story spielt sich konsequent in Walters Kopfe ab, ist als grandioser innerer Monolog angelegt – ganz im Gefolge Arthur Schnitzlers. Zahlreiche Halbsätze, Anspielungen und bruchstückhafte Gedankengänge verleiten den Leser intuitiv zur Vervollständigung.

Dennoch braucht es etwas Zeit und Einfühlungsvermögen, um sich dem Duktus des Textes hinzugeben. Nicht umsonst hat die Jury des Ingeborg-Bachmann-Wettbewerbes 2016 – wo Julia Wolf für einen Auszug aus ›Walter Nowak bleibt liegen‹ den renommierten 3sat-Preis gewann – explizit die modulierfähige Erzählstimme der Autorin gelobt. Wurden in Klagenfurt doch Text und Vortrag zusammen mit einem experimentellen Video-Porträt zu einem stimmigen Gesamtkunstwerk verwoben. Wen wundert´s, gehören Theaterstücke, Hörspiele und Filme eben auch zu Julia Wolfs Metier. ›Walter Nowak bleibt liegen‹ ist übrigens ihr zweiter Roman und im größeren Kontext als Teil einer geplanten Trilogie zu verstehen.

Aber auch allein gesehen fesselt diese Charakterstudie über einen älteren Mann, der die Zeitsprünge seiner Biographie noch einmal in Erinnerung durchtaumelt. Wobei Traum, Wirklichkeit und ein vages Zwischenreich übergangslos verschwimmen. Eine flatternde Fledermaus tritt auf, eine tiefgekühlte Schweinehälfte und der als Tierpfleger arbeitende Sohn Felix. Doch Walter Nowak bleibt liegen. Endgültig.

| INGEBORG JAISER

Titelangaben
Julia Wolf: Walter Nowak bleibt liegen
Frankfurt: Frankfurter Verlagsanstalt 2017
157 Seiten. 21,00 Euro
| Erwerben Sie dieses Buch portofrei bei Osiander

Reinschauen
| Julia Wolf liest beim Ingeborg Bachmann-Preis

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Der Frühling ist da!

Nächster Artikel

Einschneidende Veränderung

Weitere Artikel der Kategorie »Roman«

Jüdische Vergangenheit und Gegenwart

Roman | Luis S. Krausz: Verbannung Um die Lebenswege einer jüdisch-österreichischen Familie geht es in dem im Verlag für jüdische Kultur und Zeitgeschichte Hentrich & Hentrich erschienenen Roman Verbannung des brasilianischen Schriftstellers Luis S. Krausz. BETTINA GUTIÉRREZ hat den Autor hierzu befragt.

Die schwere Bürde eines guten Lebens

Roman | Daniela Krien: Der Brand

Der Brand bringt die zuvor schon dahinschwelenden Eheprobleme eines ostdeutschen Paars erneut zum Auflodern, wobei sich die ländliche Abgeschiedenheit eines Sommerdomizils als Katalysator erweist. Daniela Krien entwirft in ihrem neuen Roman das Psychogramm einer in die Jahre gekommenen, vielfach versehrten Beziehung und das Ausloten unterschiedlicher Lebensentwürfe. Von INGEBORG JAISER

Wenn der Eismann zweimal klingelt

Live | 41. Tage der deutsch-sprachigen Literatur in Klagenfurt »Germanisten-Porno« nannte es die ehemalige Preisträgerin Nora Gomringer, »Beachvolleyball-Turnier für Literatur« der Juror Klaus Kastberger: den jährlichen Wettbewerb um den begehrten Ingeborg-Bachmann-Preis, zu dem zur besten Sommerfrischezeit die Stadt Klagenfurt in diesem Jahr eingeladen hatte. Von INGEBORG JAISER

Die Hauptstadt der Zwietracht

Roman | Friedrich Christian Delius: Die linke Hand des Papstes »Was tut die Hand des Papstes, wenn sie nichts tut?« – Diese Beobachtungsaufgabe stellt sich dem Protagonisten, nachdem er den heiligen Vater am Karnevalssonntag 2011 ohne »autoritätsverheißende Tracht« in einer protestantischen Kirche antrifft. PETER MOHR rezensiert den neuesten Band des Büchnerpreisträgers F.C. Delius – Die linke Hand des Papstes.

»Ecce homo« oder Endstation Lamento

Roman | Michel Houellebecq: Serotonin Bestimmten Autoren und ihrem Werk wurden immer wieder seherische Qualitäten zugesprochen, seien es Philosophen, die den Fortschritt in der Geschichte der Menschheit beschreiben, oder Poeten, die das Endzeitgrauen von drohenden Kriegen prophezeien. Michel Houellebecq hat in dieser Hinsicht mit seinen Romanen Plattform (2001), in dem er einen islamistischen Anschlag auf einen fernöstlichen Urlaubsort beschreibt, und mit Unterwerfung (2015) zwei Volltreffer erzielen können. Ihn deswegen gleich zum Wiedergänger von Nostradamus küren zu wollen, würde jedoch zu kurz greifen. In seinem neuesten Roman Serotonin, in dem der Franzose in gewohnter Weise dystopisch auf seine Umwelt herabschaut, dichtet