Schreiben, um nicht umzukommen

Roman | Antje Ravik Strubel: Blaue Frau

»Man hat ohnehin schon das Problem der Scham und des Schuldgefühls, wenn einem so etwas widerfährt. Überhaupt diese Schwelle zu überwinden, davon zu erzählen. Und dann wird man noch damit konfrontiert, dass einem der Vorwurf der Lüge gemacht wird. Das ist eine sehr heikle Situation. Das fand ich wichtig, darüber zu schreiben«, erklärte die in Potsdam lebende Autorin Antje Ravik Strubel über die gedankliche Vorgeschichte ihres neuen Romans, in dem sexualisierte Gewalt eine zentrale Rolle spielt. Zur Verleihung des Deutschen Buchpreises 2021 schreibt PETER MOHR

Unterdrückung, Gewalt und ein nur schleppender Befreiungsprozess steht auch im Zentrum einer zweiten Handlungsebene, in der es um die Annäherung des ehemaligen Ostblocks an Europa geht. Die weibliche Hauptfigur Adina Schejbal ist im tschechischen Skigebiet im Riesengebirge aufgewachsen, geht nach Berlin, lernt Deutsch und bewegt sich häufig im Dunstkreis einer  lesbischen Bohème. Es verschlägt sie irgendwann in die Uckermark, wo sie als Praktikantin am Aufbau eines Kulturzentrums mitarbeiten soll. »Eine Osteuropäerin im Schlepptau ist der beste Schmierstoff der Welt«, befindet ein ebenso zwielichtiger wie einflussreicher Kulturmanager. Ausgerechnet dort, wo ein Begegnungszentrum zwischen Ost und West installiert werden soll, wird die junge Frau Opfer eines sexuellen Übergriffs.

Die 47-jährige Schriftstellerin Antje Ravik Strubel, die schon vor 20 Jahren mit dem angesehenen  Ernst-Willner-Preis in Klagenfurt ausgezeichnet wurde, zeichnet ein verstörendes Bild aus Andeutungen, Ahnungen, Angststörungen, manisches Misstrauen und Panikattacken. Die junge Frau reist quer durch Europa. Sie flieht vor der Tat, sie flieht vor dem Ort, letztlich flieht sie auch vor sich selbst. Auf ihrer Odyssee landet Adina schließlich in Helsinki. Dort lernt sie wieder mit Sinneswahrnehmungen umzugehen, Geräusche und Gerüche bekommen eine spürbar neue Qualität. Das Zu-sich-selbst-kommen wird auf spartanische Weise reduziert.

In Helsinki lernt Adina den aus Estland stammenden Diplomaten und Hochschullehrer Leonides kennen, der sich als idealistischer Brückenbauer zwischen Ost und West betätigt, der über »slawische Seele und skandinavisches Design« philosophiert und in seinem tiefsten Innern noch unter dem Trauma der sowjetischen Besatzung Estlands leidet. In der finnischen Hauptstadt gewinnt die Protagonistin Vertrauen zur Menschenrechtsaktivistin Kristiina, außerdem taucht dort auch in einer übergeordneten Handlungsebene die titelgebende »blaue Frau« auf, eine Art höhere moralische Instanz. »Du darfst alles, aber rechne nicht mit mir«, erklärt die blaue Frau, die ihrerseits tiefgehende Reflexionen über den Schreibprozess anstellt.

Die blaue Frau, eine Schriftstellerin, die Menschenrechtsaktivistin und die junge Adina berühren einander emotional und auch gedanklich. So drohen diese Figuren miteinander zu verschmelzen. Findet das Gewaltopfer durch den Versuch der Annäherung (oder gar Aneignung) an andere Identitäten zurück zu einer psychischen Balance?

Antje Ravik Strubel changiert zwischen diffusen, kaum greifbaren Stimmungen und äußerst detaillierten, beinahe fotografischen Beschreibungen. Hier wird künstlerisch scharf gestellt, aber der Hintergrund verschwimmt dennoch – ein hoch ambitioniertes Wechselspiel zwischen gegenwärtigen Momentaufnahmen und den seelischen Lasten der Vergangenheit. Hier wird nicht linear erzählt, immer wieder gibt es tiefe Zäsuren, eingestreute Schockerlebnisse und nicht zu überhörende Hilferufe.

Die Traumabewältigung ist das zentrale Thema dieses aufwühlenden und im wahrsten Sinne des Wortes unter die Haut gehenden Romans. Unterdrückung, Gewalt, Zerstörung des Selbstwertgefühls – all das haben sowohl Adina als auch ihr estnischer Freund (wenn auch auf unterschiedlichen Ebenen) durchlebt. »Wenn ich Ihnen nicht schreibe, komme ich um«, lautete ein beklemmender Satz in einem Brief der Protagonistin an die neue Freundin Kristiina.

| PETER MOHR

Titelangaben
Antje Ravik Strubel: Blaue Frau
Frankfurt/M.: S. Fischer Verlag 2021
428 Seiten. 24.- Euro
| Erwerben Sie diesen Band portofrei bei Osiander

Reinschauen
| Leseprobe

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Ofenschlupfer bewirken Wunder

Nächster Artikel

Die Geschichte von zwei ungleichen Brüdern

Weitere Artikel der Kategorie »Roman«

Kammerspiel in der Schalterhalle

Roman | Marie Malcovati: Nach allem, was ich beinahe für dich getan hätte Am Basler Bahnhof treffen drei Menschen, drei Schicksale, drei Lebensläufe aufeinander. Stoff genug für Gedankenexperimente, Vorstellungen und Träume. Bei Marie Malcovati entstand aus dieser Idee ausnahmsweise kein Drehbuch, sondern ein beachtliches Romandebüt. ›Nach allem, was ich beinahe für dich getan hätte‹ lässt Leerstellen nur erahnen. Von INGEBORG JAISER

Als die Clubs noch Disco hießen

Roman | Johann von Bülow: Roxy

»Muss man ein Leben lang der sein, als der man geboren wurde?« Oder kann man seine Herkunft, seine Wurzeln hinter sich lassen und einfach neu beginnen? Diese Fragen stellt Johann von Bülow in seinem Debütroman Roxy, einer detailverliebt und wortgewandt erzählten Coming-of-Age-Geschichte. Wer könnte eher eine Antwort darauf finden als ein Schauspieler, der es gewohnt ist, in fremde Rollen zu schlüpfen und ein anderes Leben nachzuempfinden? Von INGEBORG JAISER

Nicht nur Nixon erlebte sein Watergate

Roman | Ross Thomas: Dann sei wenigstens vorsichtig Was wäre ein Krimijahr ohne ein neues Buch von Ross Thomas. Na gut, das »neu« sollte man richtig verstehen. Denn erstens ist der amerikanische Autor bereits seit 23 Jahren tot und zweitens stammt sein jetzt erschienener Thriller Dann sei wenigstens vorsichtig aus dem Jahre 1973. Das Adjektiv »neu« indes rechtfertigt nicht nur der aktualisierte deutsche Titel – die Ullstein-Erstausgabe von 1974 hieß Nur laß dich nicht erwischen –, sondern auch die Tatsache, dass man das Buch nun endlich ungekürzt und in einer neuen Übersetzung lesen kann. Alles wie gehabt beim Berliner Alexander

Kassandra verstummt nicht

Roman | Friedrich Christian Delius: Wenn die Chinesen Rügen kaufen, denkt an mich

»Jedes Buch entsteht aus neuen Fragen, aus neuen Erfahrungen heraus«, hatte Friedrich Christian Delius 2013 in einem Interview über seine eigene Arbeit erklärt. Ein spürbarer politischer Klimawechsel, gewaltige Veränderungen in der Medienlandschaft und handfeste Probleme mit dem Älterwerden sind die zentralen Motive im neuen, etwas sperrigen Erzählwerk des Georg-Büchner-Preisträgers von 2011. Von PETER MOHR

Wenn etwas ins Auge geht

Roman | Irene Dische: Schwarz und Weiß Nur selten ist ein Titel so aussagekräftig wie beim neuen opulenten Epos ›Schwarz und Weiß‹ der überwiegend in Berlin lebenden amerikanischen Schriftstellerin Irene Dische. Sie erzählt in ihrem sechsten Roman von der unkonventionellen Liebesgeschichte zwischen einem ungebildeten, dunkelhäutigen jungen Mann aus Florida und der Tochter einer intellektuellen jüdischen Emigrantenfamilie aus New York. Aufsteigergeschichte, Familienroman und Gesellschaftspanorama hätte es werden können, doch über weite Strecken fühlt man sich in eine rasante Woody Allen-Komödie versetzt. Von PETER MOHR