Roman | Julian Barnes: Die einzige Geschichte
Am Lebensherbst angekommen, stellt sich jeder unweigerlich die Frage nach Liebe und Reue. Paul liebt eine 30 Jahre ältere, verheiratete Frau. Doch er bereut seine Liebesgeschichte nicht, denn – wie er von ihr lernt – es ist die einzige Geschichte, die zählt. Von MONA KAMPE
›Würden Sie lieber mehr lieben und dafür mehr leiden oder weniger lieben und weniger leiden?‹ Vor diese gewichtige Frage stellt Essayist Julian Barnes seine Leser gleich zu Beginn seines jüngst erschienenen Romans ›Die einzige Geschichte‹.
Sein Protagonist Paul blickt auf sein Leben zurück und erzählt das Ereignis, das für ihn letzten Endes erzählenswert ist, seine einzige Geschichte. Diese hat es in sich: 19-jährig verliebt er sich in seine Tennispartnerin, die 30 Jahre ältere Susan Macleod.
Leichtfüßig und überwältigt von der ersten Liebe glaubt er, in ihr und ihrer Fröhlichkeit die Frau fürs Leben gefunden zu haben, obwohl ihre Liebschaft jegliche Konventionen im kleinen Ort »The Village« südlich von London bricht.
Nach der Hochphase der Verliebtheit und dem Stolz mit einer erfahrenen Frau zusammen zu sein, schleichen sich nach und nach Herausforderungen ein, die Pauls Traumblase zum Platzen bringen: Lügen gegenüber seinen Eltern und ihren Töchtern, ihr patriarchalischer, wütender Ehemann, seine zeitintensive Ausbildung und ihre zunehmende Trinkerei.
Das Leben holt die beiden ein und Paul muss eine Entscheidung treffen: Bei seiner großen Liebe bleiben und leiden oder gehen und sich selbst schützen?
»Die meisten von uns haben nur eine einzige Geschichte zu erzählen«
Wie gewohnt begeistert der englische Romancier Julian Barnes mit einer meisterhaften Mischung aus stereotypen Gesellschaftsszenarien und philosophischen Hintergründen. Mit der Ich-Erzählung seines Protagonisten, der 50 Jahre später auf sein Leben zurückblickt und sich den für ihn wichtigen Fragen stellt, zeichnet der Autor nicht nur eine Retrospektive auf seine und die vorige Generation, sondern Präferenzen für die kommende.
Es gibt zeitlose Fragen, wie die nach Liebe, Reue und Leid. Paul selbst stellt die provokante These auf, dass letzten Endes nur ein Ereignis in jedem Leben von Bedeutung ist, nur eins ist erzählenswert, seine Liebesgeschichte, die einzige Geschichte – wie Susan ihn lehrt. Sein Leben lang sammelt er Definitionen der Liebe in seinem Notizbuch, bejaht sie, verwirft sie. Eine bleibt am Ende stehen: »Meiner Meinung nach ist jede Liebe, ob glücklich oder unglücklich, eine Katastrophe, sobald man sich ihr voll und ganz hingibt.«
Diese Aussage ist weder pessimistisch noch bittersüß – sie ist wahr und fasst die ganze Traurigkeit des Lebens für ihn. Doch vielleicht benötigt die Liebe keine Definition, sie lässt sich nur in einer Geschichte erfassen. Und ob diese für ihn traurig endet, erfahren Sie nur, wenn Sie sie sich von Paul erzählen lassen.
Titelangaben
Julian Barnes: Die einzige Geschichte
Aus dem Englischen von Gertraude Krueger
Köln: Kiepenheuer & Witsch 2019
304 Seiten, 22 Euro
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