Roman | Benedict Wells: Die Wahrheit über das Lügen
Zwischen zwei Romanen präsentiert der erfolgsverwöhnte Autor Benedict Wells nun zur Abwechslung zehn Geschichten aus den letzten zehn Jahren. Der Erzählband ›Die Wahrheit über das Lügen‹ entpuppt sich als Überraschungspaket mit kafkaesken Szenen, trügerischen Träumen und unerwarteten Familiengeheimnissen. Von INGEBORG JAISER
Als 2008 Benedict Wells Debütroman ›Becks letzter Sommer‹ erschien, hyperventilierten Leser und Kritiker gleichermaßen. Mit Anfang zwanzig war Wells der jüngste Autor des renommierten Diogenes Verlags, zugleich ehrgeizig aufstrebend und unverschämt gut aussehend. Und er konnte schreiben, als hätte er seine Lieblingsschriftsteller John Irving, F. Scott Fitzgerald, Carson McCullers perfekt verinnerlicht.
Fortan wurde der Jungautor als literarisches Wunderkind und Ausnahmetalent gehandelt, hatte er doch keine schriftstellerische Kaderschmiede durchlaufen, sondern sich einzig auf seine Willensstärke und seine Visionen verlassen. Für sein Debüt wurde Wells mit dem Bayerischen Kunstförderpreis ausgezeichnet, sein inzwischen vierter Roman ›Vom Ende der Einsamkeit‹ stand gut anderthalb Jahre auf den Bestsellerlisten.
Zwischen Wahn und Wahrheit
Was kommt nach frühem Erfolg, großer Beachtung und zahlreichen Auszeichnungen? Während Benedict-Wells-Fans schon ungeduldig den nächsten Roman ersehnen, legt der möglicherweise erschöpfte Autor erst einmal eine (Kunst-)Pause ein. ›Die Wahrheit über das Lügen‹ versammelt ›Zehn Geschichten aus zehn Jahren‹, in unterschiedlicher Länge und Thematik. Es sind Fingerübungen und Momentaufnahmen, Auskopplungen von Romanen und Beiträge zu Anthologien, Verspieltes und Verworfenes – verpackt in eine Wundertüte oder ein »Mixtape« (wie es der Autor in einem Blog selbst bezeichnet). Vor allem aber verdeutlicht dieser Erzählband die enorme Bandbreite von Wells stilistischen und inhaltlichen Möglichkeiten.
Viele der Geschichten changieren zwischen Traum und Wirklichkeit, zwischen Fantasy und Fakten, zwischen Wahn und Wahrheit – oft unterlegt mit einem cineastischen Blick. Nicht umsonst stellt Wells dieser Anthologie ein Zitat des Regisseurs Akira Kurosawa voran: »Der Mensch ist ein Genie, wenn er träumt«.
Was-wäre-wenn-Geschichten
Im Traum erscheint der Schriftstellerin Margo Brodie auch eine blaugelockte männliche Muse, die schlagartig alle Schreibblockaden beseitigen kann. Doch das trügerische Vexierspiel zwischen Kunst und Liebe lässt nicht beide Glückszustände zu (Die Muse). Von eher verzweifelten Träumen werden die beiden jungen Männer geplagt, die sich unversehens in einem nackten Raum wiederfinden, der lediglich mit einer Tischtennisplatte möbliert ist (Ping Pong). Sollen sie tatsächlich um ihre Freiheit, ihr Leben spielen? Wer hat dieses kafkaeske Setting inszeniert?
Vollkommen abgedreht ist auch die titelgebende Story Das Franchise oder die Wahrheit über das Lügen. Darin wird ein erfolgloser Drehbuchautor, der sich als Pizzabote verdingt, in einem Aufzug unversehens in das Jahr 1973 zurückgebeamt. Nach anfänglichen Irritationen realisiert er, dass er die Filmgeschichte neu aufrollen und Star Wars als sein eigenes Werk lancieren kann. Eine turbulente, abenteuerliche Was-wäre-wenn-Geschichte, die nicht nur ausgewiesene Filmfreaks ausflippen lässt.
Das Schreiben liegt in der Familie
Eine Sonderstellung nimmt die 2015 entstandene, bereits in einer Anthologie erschienene Kurzgeschichte Das Grundschulheim ein. In ruhigem, gemächlichem Duktus, ohne Abschweifungen und Schlenker, wird von der eingeschworenen Gemeinschaft eines Internats erzählt, von ihren Ritualen und Gebräuchen. »Keiner von uns war freiwillig hier. Keiner von uns verstand, dass er nicht freiwillig hier war.« Als katastrophengeübter Leser wittert man hinter jedem Satz intuitiv Gefahr, Missbrauch, Unheil. Aber nichts dergleichen passiert. »[…] wir kannten einander besser als jeden sonst und hatten uns geschworen, für immer Freunde zu bleiben. Doch wir sahen uns nie wieder.« Vielleicht ist die Auslöschung jeglicher Tragik das irritierendste Motiv dieser Story.
Benedict Wells hat selbst seine gesamte Schulzeit in Internaten verbracht. Wie weit ihm die Familie doch noch nachhing, mag bloße Vermutung sein. Der angelsächsisch klingende Nachname ist zumindest selbst gewählt, eine Hommage an einen Romanhelden von John Irving. In Wirklichkeit ist Benedict der kleine Bruder von Ariadne von Schirach und der Cousin Ferdinand von Schirach. Unbestreitbar: das Schreiben liegt in der Familie. Wenngleich Empathie und Einfühlungsvermögen eine besondere Gabe von Benedict Wells sein mögen. Seine Fans dürfen die ›Wahrheit über das Lügen‹ als lässliche (und lässige) Überbrückung bis zum nächsten Roman empfinden, für Einsteiger ist diese Sammlung geschmeidig erzählter Geschichten der Appetitanreger schlechthin.
Titelangaben
Benedict Wells: Die Wahrheit über das Lügen. Zehn Geschichten aus zehn Jahren
Zürich: Diogenes 2018
239 Seiten. 22.- Euro
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