Tod des unbekannten Freundes

Roman | Norbert Gstrein: In der freien Welt

»Der Tod meines Freundes John in San Francisco ist mir mit wochenlanger Verspätung bekannt geworden, aber die genauen Umstände liegen immer noch im Dunkeln«, lautet der Spannung verheißende Eröffnungssatz im neuen Roman ›In der freien Welt‹ von Norbert Gstrein. Von PETER MOHR

Gstrein_25119_MR.inddDer 54-jährige österreichische Schriftsteller ist bekannt dafür, dass er brisante Themen nicht scheut. Nach dem Balkankrieg (›Das Handwerk des Tötens‹) und einer nur mäßig verschleierten, gegen Suhrkamp-Chefin Ulla Berkéwicz gerichteten Roman-Persiflage (›Die ganze Wahrheit‹) steht nun schon zum dritten Mal der Nahostkonflikt im Mittelpunkt eines Gstrein-Romans.

»Kaum geht es um Israel, haben alle die Hosen voll und sagen aus Angst, etwas Falsches zu sagen, auch nichts Richtiges mehr«, hieß es im Vorgängerroman ›Eine Ahnung vom Anfang‹ (2013). Und dieser Satz trifft die ambivalente Grundstimmung des neuen Erzählwerks punktgenau.

Es geht um eine diffuse Freundschaft zwischen zwei Schriftstellern. Da ist auf der einen Seite der jüdisch-amerikanische Autor John, der in einem schäbigen Viertel von San Francisco erstochen wird. Es war offensichtlich kein Raubmord, denn 175 Dollar, die er bei sich führte, und sein Handy blieben unangetastet. John war Anfang sechzig, Sohn einer Holocaust-Überlebenden, Zionist und traumatisierter Teilnehmer am ersten Libanon-Krieg.

Auf der anderen Seite steht der Ich-Erzähler Hugo, ein nur leidlich talentierter österreichischer Autor, der (wie Norbert Gstrein) aus einem Tiroler Bergdorf stammt und der in seinen Erinnerungen die Begegnungen und die Freundschaft mit John offensichtlich verklärt. Hugo war der Bewunderer, der sich an der Seite des extrovertierten John wohlfühlte, der an Momente zurück dachte, »die in mir das Glück von damals heraufbeschworen.« Kurz vor Johns rätselhaftem Tod hatten sich die beiden so ungleichen Autoren noch einmal getroffen. Und Hugo hat es sich in den Kopf gesetzt, den Tod des Freundes zu recherchieren und sich retrospektiv noch einmal der Freundschaft anzunähern.

Viermal war John verheiratet, daneben hatte er viele Affären, hatte exzessiv getrunken, dann dem Alkohol abgeschworen und sich als bildender Künstler versucht – mit einem »Self Portrait as a Hated Jew« betitelten Gemälde. In all seiner Zerrissenheit erinnert John ein wenig an die Philip-Roth-Figuren, wenn gleich es ziemlich offenkundig ist, dass Alan Kaufman, ein mit Gstrein befreundeter jüdischer Autor, für die John-Figur Pate gestanden hat. Dabei ist schon auf dem Vorsatzblatt zu lesen: »Ich bin nicht ich, und er ist nicht er«. Wir erleben also eine neue Variante von Gstreins beliebtem literarischen Spiel mit Fakten und Fiktion.

Da gibt es Erinnerungen an die gemeinsame Teilnahme an einem Literaturfestival im österreichischen Gmunden, als John zusammen mit dem palästinensischen Autor Marwan auftrat, der später in israelischer Haft Hermann Brochs ›Der Tod des Vergil‹ ins Arabische übersetzte. Es wurde heiß und heftig diskutiert, mehr über Politik als über Kunst, ein gemeinsames Buchprojekt war geplant, doch stets bewegten sich die Figuren auf dem schmalen Grat zwischen künstlerischen Gemeinsamkeiten und kaum überwindbaren politischen Hürden.

Norbert Gstrein findet großen Gefallen an der Beschreibung der Intellektuellenszene mit all den schrägen Paradiesvögeln (manche offenkundig realen Personen nachempfunden), die mit übertriebener Affektiertheit auftreten und für sich die absolute moralische Integrität reklamieren.

John wird als Person immer weniger greifbar, je tiefer Hugo in seinen Recherchen vordringt und seine eigenen Erinnerungen ordnet. John als Frauenheld, als Sportskanone, als Künstler, als Soldat – mal ist er der Sentimentale, mal der Unbesiegbare, dann aber auch der hoffnungslos Verzweifelte und der mit großer Geste an seiner eigenen Vita Leidende: ein Verwandlungskünstler wider Willen, vom eigenen Leben schwer gezeichnet.

Norbert Gstrein strebt mit vielen Perspektivwechseln eine Art politisch-moralische Polyphonie an. Seine durch Hugos Blickwinkel arrangierte Suche nach der »einen« Wahrheit endet im Nirwana – weder zwischen Freunden und schon gar nicht zwischen zwei »verfeindeten« politischen Lagern lässt sich Objektivität herstellen. »Schreib über mich!«, hatte er Hugo später mehrfach aufgefordert, »aber mach keinen Heiligen aus mir.«

Am Ende von Norbert Gstreins Roman ist Johns Wunsch erfüllt. Kein Heiliger, sondern ein unbekannter, rätselhafter Freund ist er in Hugos Aufzeichnungen geworden. Irgendwo zwischen Himmel und Hölle bewegt sich diese, vom gnadenlosen Prüfstand der Weltpolitik geprägte Freundschaft. Ein durch und durch verstörendes Buch – irritierend, beängstigend, ja manchmal sogar atemberaubend schockierend.

| PETER MOHR

Titelangaben
Norbert Gstrein: In der freien Welt
München: Carl Hanser Verlag 2016
496 Seiten, 24,90 Euro
Erwerben Sie dieses Buch portofrei bei Osiander

Reinschauen
| Leseprobe

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Mädchen, Junge – was ist das?

Nächster Artikel

In Ungnade gefallen

Weitere Artikel der Kategorie »Roman«

Überrollt von der Macht der Menge

Roman | Juan Gabriel Vásquez: Wenn es an Licht fehlt

Obwohl ihn Nobelpreisträger Mario Vargas Llosa schon vor einigen Jahren hochgelobt hat und seine Romane schon in 16 Sprachen übersetzt worden sind, ist der kolumbianische Schriftsteller Juan Gabriel Vásquez hierzulande noch weitestgehend unbekannt. In deutscher Übersetzung waren zuvor der Roman Die Reputation (2016) und die Erzählungen Lieder für die Feuersbrunst (2021) erschienen. Sein neuer Roman Wenn es an Licht fehlt verknüpft eine Familiengeschichte mit der Weltpolitik – mit dem China während der Kulturrevolution und den politisch instabilen, von blutigen Kämpfen geprägten Verhältnissen in Kolumbien. Von PETER MOHR

Tod im Outback

Roman | Jane Harper: Zu Staub Ein Toter liegt unter der glühenden Sonne im Norden Australiens: Cameron, der mittlere von drei Brüdern, die hier im Outback ihre Farmen betreiben. Nathan und Bub heißen die beiden anderen. Ihr Vater, Carl Bright, früh bei einem Autounfall ums Leben gekommen, hat ihnen das weite Land zu je einem Drittel überlassen. Jetzt ist Cameron tot, an Hitze, Durst und Angst gestorben, und die Familie muss sich fragen, wie es weitergehen soll. Bald aber steht noch eine weitere Frage im Raum: Was, wenn der erfahrene Rancher doch keines natürlichen Todes gestorben ist? Von DIETMAR JACOBSEN

Geheimnisvolle Blicke

Roman | Orhan Pamuk: Diese Fremdheit in mir Wenn Orhan Pamuk in Diese Fremdheit in mir wehmütig auf den Wandel Istanbuls von einer orientalischen Großstadt zu einer modernen Metropole blickt, dann verbinden sich orientalische Erzählkunst mit dem Blick eines kritischen westlichen Soziologen. Metaphern aus tausendundeiner Nacht bilden einen Teppich des Geheimnisvollen, auf dem ein Mann die falsche Frau wählt, um die Richtige zu lieben. Ohne erhobenen Zeigefinger und ohne Urteil lebt der Protagonist Mevlut seine eigene Version eines starken Wanja, um im Wandel der Zeiten zu bestehen. VIOLA STOCKER begab sich auf eine Reise.

Selbstfindung in Cadaqués

Roman | Milena Busquets: Auch das wird vergehen »Mein Platz auf der Welt war in deinem Blick, und der schien mir so unstrittig und beständig, dass ich mir nie die Mühe machte, herauszufinden, wie er beschaffen war«, resümiert die Ich-Erzählerin Blanca das Verhältnis zu ihrer gerade verstorbenen Mutter. Mit der Beerdigung beginnt die spanische Autorin Milena Busquets ihren Romanerstling Auch das wird vergehen, der in ihrer Heimat lange Zeit ganz vorne in den Bestsellerlisten rangierte. Von PETER MOHR

Spion zwischen allen Stühlen

Roman | Joseph Kanon: Leaving Berlin Leaving Berlin ist der zweite im Berlin der unmittelbaren Nachkriegszeit spielende Thriller des US-amerikanischen Bestsellerautors Joseph Kanon. Während The good German (2001, deutsch 2002 unter dem Titel In den Ruinen von Berlin) unmittelbar nach Kriegsende, im Juli 1945, spielt und den Kampf der Siegermächte um Hitlers Raketentechnologie und die Männer, die an deren Entwicklung beteiligt waren, ins Zentrum stellt, kreist Kanons letztes, im amerikanischen Original 2013 erschienenes Buch um ein anderes brisantes Thema jener Zeit, den Uranabbau in Bergwerksanlagen der sowjetischen Besatzungszone und späteren DDR. Unter dem Firmennamen »SAG Wismut« wurde ab 1946 zunächst