Geboren, um zu sterben

Roman | Malin Schwerdtfeger: Delphi

In ihrem zweiten Roman ›Delphi‹ kreist Malin Schwerdtfeger um das Leben in fremden Kulturkreisen und um die Gratwanderung zwischen Außenseitertum und Anpassung. Von PETER MOHR

Delphi»Erinnerungen sind wie unscharfe Filme«, heißt es in Malin Schwerdtfegers zweitem Roman »Delphi«, in dem die Autorin aus der Sicht eines bereits toten Mädchens die Odyssee einer Familie beschreibt. Handlungsauslöser ist ein uralter, nur wenige Minuten langer Super-8-Film. Die verschwommenen Sequenzen setzen einen überbordenden Erinnerungsmechanismus in Gang.

Der Vater ist Archäologe, für ihn Passion und Profession zugleich; er zieht von Deutschland nach Athen und dann weiter nach Jerusalem – mit ihm seine Frau und die vier Kinder. So kreist dieser Roman in weit ausholenden erzählerischen Bögen vor allem um das Leben in fremden Kulturkreisen, um die Gratwanderung zwischen Außenseitertum oder Anpassung.

Die Kinder sind die Leidtragenden, denn der Vater ist stets unterwegs, und die überforderte Mutter fühlt sich in Jerusalem auf seltsame Weise von einem Kreis orthodoxer Juden angezogen, nennt sich fortan Schoschana und zieht in der Küche eine koschere Grenze. Die zum Judentum konvertierte Protestantin landet am Ende in einer psychiatrischen Klinik. Überhaupt geht es in diesem Roman ziemlich schräg zu.

Auch der in Friesland lebende Großvater kommt unheimlich daher. Er birgt Wasserleichen, um sie dann auf einem Privatfriedhof beinahe rituell beizusetzen. Die Schwelle zwischen Leben und Tod spielt schon durch die ungewöhnliche Ich-Erzählerin (»Ich wurde geboren, um zu sterben.«) eine ganz zentrale Rolle, überdies pendelt man durch den Beruf des Vaters und die antiken Handlungsschauplätze stets zwischen Gegenwart und Vergangenheit.

Malin Schwerdtfeger, die 2000 mit den Erzählungen »Leichte Mädchen« debütierte, erzählt mit viel Liebe zum Detail von den unterschiedlichsten Schauplätzen, die sie offensichtlich aus eigenem Erleben kennt. Dennoch bleibt das Leben am Krisenherd Jerusalem zu Beginn der 90er Jahre seltsam idyllisch: »Unser Vater in seinem Subaru war eine Enklave der Neutralität.« Die beiden ältesten Kinder Linda und Robbie schwänzen dreimal pro Woche die Schule, um an der Universität Vorlesungen über Musikethnologie und Assyriologie zu besuchen.

Das ist eine wunderbare Geste der Völkerverständigung und ein Musterbeispiel für tugendhaften Bildungshunger, aber handeln so deutsche Teenager in einem fremden Kulturkreis?

Vieles an diesem Roman wirkt künstlich arrangiert, auch die fremden Schauplätze werden von einem folkloristischen Nebel eingehüllt. Großes hat Malin Schwerdtfeger im Sinn gehabt, über das »appollinische und dionysische Prinzip« in »Delphi« referierte sie kürzlich im Literarischen Colloquium in Berlin. Aber anscheinend hat die Autorin ihrem ambitionierten Werk selbst nicht so ganz über den Weg getraut, denn in den letzten Sätzen löst sie die Handlung selbst erklärend auf. »Ich muß mich nicht erinnern. Ich bin die Erinnerung«, lässt sie die im Kindesalter verstorbene Ich-Erzählerin resümieren.

| PETER MOHR

Titelangaben
Malin Schwerdtfeger: Delphi
Köln: Kiepenheuer und Witsch Verlag 2004
296 Seiten, 18,90 Euro
| Erwerben Sie dieses Buch portofrei bei Osiander

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Die kunstseidene Kosmetikerin

Nächster Artikel

»Lettre« zu preisen

Weitere Artikel der Kategorie »Roman«

Dresden nach dem großen Krieg

Krimi | Frank Goldammer: Roter Rabe In den letzten Kriegsmonaten setzt die Reihe historischer Kriminalromane ein, mit denen sich der Dresdener Autor Frank Goldammer (Jahrgang 1975) seit ein paar Jahren eine große Lesergemeinde geschaffen hat. Max Heller heißt sein Protagonist und die einzelnen Romane verbinden geschickt spannende Kriminalfälle mit deutsch-deutscher Zeitgeschichte nach dem Zweiten Weltkrieg. Von DIETMAR JACOBSEN

Rhapsode einer untergegangenen Welt

Roman | Blaise Cendrars: Auf allen Meeren / Die Signatur des Feuers (Zum 50. Todestag) Blaise Cendrars – Schriftsteller und Filmemacher, Weltenbummler und Lebenskünstler, Legionär und Bonvivant. In seinem Werk balanciert der Dichter zwischen Wirklichkeit und Fiktion, jongliert mit Anekdoten, Legenden, Erinnerungen, Bonmots, Klischees, beschwört Die Signatur des Feuers – und segelt Auf allen Meeren. Von HUBERT HOLZMANN

Ich habe die Macht

Roman | Ernst-Wilhelm Händler: Das Geld spricht Ernst-Wilhelm Händler ist ein absolut singulärer Typ im deutschsprachigen Literaturbetrieb. Der 66-jährige studierte Philosoph und Ökonom leitete bis 2001 in Regensburg ein Familienunternehmen für Elektrotechnik und hat – sozusagen im Nebenjob – später acht Romane verfasst – u.a. Der Überlebende (2013), ein dystopisches Werk über die Auswüchse des Turbo-Kapitalismus und dessen selbstzerstörerische Kräfte. Eine Rezension des neuesten Romans Das Geld spricht von PETER MOHR

Der Traum von einer besseren Welt

Krimi | Arne Dahl: Neid Nach Gier (Piper 2012) und Zorn (Piper 2013) kann man nun mit Neid den dritten Teil von Arne Dahls Serie um die OPCOP-Gruppe auf Deutsch lesen. Erzählt wird, wie um eine Erfindung, die die Welt revolutionieren könnte, ein blutiger Krieg entbrennt. Und trotz aller Zukunftsmusik, die in dem rasant zu lesenden Roman erklingt, bleibt Dahl erfreulicherweise mit beiden Füßen auf der Erde und plädiert für ein Europa, dass sich seiner weltweiten Verantwortung bewusst werden sollte. Von DIETMAR JACOBSEN

Warten auf das Ende – Buchmesse-Schwerpunkt Spanien

Roman | Antonio Munoz Molina: Tage ohne Cecilia

Antonio Munoz Molina gehört zu den herausragenden zeitgenössischen spanischen Schriftstellern. Der 66-jährige Autor wird am 18. Oktober als Ehrengast Redner bei der Eröffnung der Frankfurter Buchmesse sein. Munoz Molina hat viele Jahre das Cervantes-Institut in New York geleitet und ist mit den meisten wichtigen Literaturpreisen Spaniens ausgezeichnet worden – bereits 1991 mit dem Premio planeta (den wichtigsten spanischen Literaturpreis) für den Roman Der polnische Reiter. Von PETER MOHR