»Wir werden die sein, die man nicht wirklich wahrnimmt im Gericht, aber von denen man weiß, dass sie da sein müssen. Die Neugierigen und scheinbar Unbeteiligten, die, die erst mal auf keiner Seite stehen, sondern dem Handwerk des Richters zusehen wollen, dem Funktionieren der Maschine, die historisch und zeitgeschichtlich Erschreckten, die Aufgeschreckten, dass so eine Mord- und Terrorserie in Deutschland möglich sein kann. Wir werden die sein, die sich wundern«, lässt die österreichische Schriftstellerin Kathrin Röggla einen Chor aus unterschiedlichsten Stimmen zu Beginn ihres collageartigen Romans über den NSU-Prozess sagen. Von PETER MOHR
Dieses künstlerisch ebenso reizvolle wie komplizierte Zusammenspiel von Dokumentation und Fiktion hat bei der 52-jährigen gebürtigen Salzburgerin durchaus Methode. Sie war am 11. September 2001 nur etwa einen Kilometer vom World Trade Center entfernt und sah die Twin-Towers einstürzen. Danach verfasste sie für den Band »Really Ground Zero« eine Reihe von Texten, in denen sie sich sich mit den Reaktionen der Amerikaner auf die Anschläge auseinander setzte und ließ darin viele Augenzeugen zu Wort kommen. Fraglos wichtige zeitgeschichtliche Dokumente, über den künstlerischen Wert lässt sich indes treffllich streiten. Nicht anders erging es mit dem Band Wir schlafen nicht (2004), ein erzählerisches Puzzle mit authentischen und fiktiven Dialogen aus der Welt der »New Economy«.
Nun hat sich Röggla mit den 438 Verhandlungstagen des NSU-Prozesses auseinander gesetzt und aus der Perspektive von zahlreichen Prozessbeobachtern beleuchtet. Es geht dabei auch um die Rolle des Verfassungsschutzes und der sensationslüsternen Medien. Über allem schwebt aber die Frage nach den Beweggründen für die Taten, denen neun Menschen zum Opfer fielen. Kathrin Röggla, die seit 2020 als Professorin für literarisches Schreiben an der Kunsthochschule für Medien Köln in Köln tätig ist, lässt uns an den Gedanken völlig unterschiedlicher Prozessbeobachter partizipieren: Da ist die politisch engagierte Omagegenrechts, ein pensionierter Jurist, ein nebenberuflicher Blogger und die hypersensible Yildiz, eine junge Frau mit Migrationshintergrund. Bedingt durch Alter, Herkunft und berufliche Sozialisation treffen hier ganz verschiedene Erfahrungshorizonte aufeinander. Das klingt nicht nur vielstimmig, sondern (durchaus gewollt) auch völlig disparat.
Kathrin Röggla, die dem Prozess häufig selbst beiwohnte, lässt auch ihre eigenen Eindrücke einfließen – über Beteiligte aus dem Nazi-Milieu und Tatortzeugen.
Ein Roman, der den NSU-Prozess als Kunstwerk umsetzen will, ist fraglos ein höchst ambitioniertes Projekt – eine Mischung aus Dokumentation, Fiktion und Analyse. Beeindruckend ist die von Kathrin Röggla inszenierte Vielstimmigkeit. Man glaubt, die innere Aufgewühltheit der Figuren aus den Zeilen zu fühlen.
Dass sie ihren Erzählchor als »kollektives Sprachrohr«, als kaum greifbares »Wir«, das offensichtliche eine Art repräsentatives Volksempfinden abbilden soll, auftreten lässt, wirkt nicht immer überzeugend.
Laufendes Verfahren ist ein mutiges und anspruchsvolles Buch – unbequem und nach wie vor von großer gesellschaftlicher Relevanz. Die absichtsvoll kühne Collage-Technik wird hier bis an die Grenzen ausgereizt, die Polyphonie bestimmt den Rhythmus dieser Prosa. Kein Buch für zwischendurch, kein ästhetischer Hochgenuss – aber eine Lektüre, die viele Nadelstiche versetzt, tiefgehende Fragen aufwirft und uns in einem Zustand geistiger Erregung zurück lässt.
Titelangaben
Kathrin Röggla: Laufendes Verfahren
Frankfurt/M.: S. Fischer Verlag 2023
204 Seiten, 24 Euro
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