Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine hat ein über einen großen Zeitraum hinweg von den Ländern des Westens nur sporadisch bemerktes Land in das Zentrum internationaler Aufmerksamkeit gerückt und die Welt in Unruhe und teilweise chaotische Turbulenzen versetzt. DIETER KALTWASSER über zwei neue Bücher, die Geschichte und Gegenwart der Ukraine beleuchten.
Der Krieg in der Ukraine hat den großen Bedarf an fundiertem Wissen über die Region und deren Hintergründen aufgezeigt. Das von dem Historiker Wolfgang Benz herausgegebene neue Buch ›Die Ukraine – Kampf um Unabhängigkeit. Geschichte und Gegenwart‹ ist auch eine Chronik, wie Russland die Ukraine seit Jahrhunderten unterdrückt und wie das Land dieser Kolonialisierung und Einverleibung trotzt.
In den Aufsätzen wird auf das spannungsgeladene Wechselspiel von nationaler Unabhängigkeitsbewegung und imperialer Repression seit dem frühen 19. Jahrhundert detailliert eingegangen. Aus wissenschaftlicher Perspektive werden ethnische, religiöse und soziale Probleme analysiert sowie politische, geografische, kulturelle und historische Gegebenheiten dargestellt. Ein besonderes Gewicht wird auf die Zeit der ersten ukrainischen Unabhängigkeit gelegt und auf die aggressive und mit unbarmherziger Härte durchgeführte »Restauration des Zarenreichs« durch die Sowjetunion ab den 1920er Jahren und schließlich dem von Stalin herbeigeführten »Holodomor« mit 3,5 bis 4 Mio. Toten in der Ukraine in den Jahren 1932/33. Der Ukraine blieb die »staatliche Realität« in dem Jahrfünft zwischen 1918 und 1923 allerdings deshalb verwehrt, so Andreas Schulz in seinem Essay ›Brüchige Staatlichkeit und fremde Interessen‹, weil auch die Weltkriegsverlierer an der Ukraine herumzerrten.
Im Mittelpunkt der Beiträge »steht der lange Weg der Ukraine nach Westen«, »mit all den Problemen, die jenseits des von Russland mit Krieg überzogenen Landes bestehen, die noch zu überwinden sind, wenn der Wiederaufbau beginnt, der dem erhofften Frieden folgen muss.« Zum Verständnis des kriegerischen Konflikts ist, so der Historiker Benz, der »Blick auf die Hintergründe der verstörenden Ereignisse der Gegenwart unerlässlich«. Die Ukraine habe jahrhundertelang in Abhängigkeit ihrer Nachbarn gestanden. Am Ende des 20. Jahrhunderts schien es, als ob das Land den Kampf um seine Souveränität endlich entschieden hätte und ein souveräner, europäischer Staat werden könnte. Die Ukraine hat eine Bevölkerung von ca. 42 Millionen Menschen. Von ihnen sind nach Sprache und ethnischem Verständnis etwa 78 Prozent Ukrainer. Dazu kommen 17 Prozent Russen und kleinere Minderheiten. Die Identität als eigenes Volk wurde den Ukrainern über eine lange Zeit abgesprochen.
In seinem Beitrag ›Juden und Judenfeinde – Von den Pogromen der Zarenzeit zum Holocaust‹ betont der Herausgeber und Antisemitismusforscher Benz, dass »die Massengewalt gegen Juden in den drei Jahren deutscher Herrschaft vom September 1941 bis August 1944 die Exzesse der Pogrome unter dem Zarenregime um ein Vielfaches« übertroffen habe. In dem Beitrag ›Kontroverse Erinnerung: Stepan Bandera, ein Terrorist und Nationalheld?‹ wird von Benz die Rolle des in der Ukraine teilweise immer noch als Nationalheld gefeierten Bandera erkundet. Er ist, so Arnd Bauerkämper, für Verbrechen der OUN (Organisation Ukrainischer Nationalisten) »politisch und moralisch verantwortlich, vor allem für die Ermordung von rund 4000 Juden in Lemberg am 30. Juni und 1. Juli 1941 und die Massaker in Wolhynien und Ostgalizien, denen 1943/44 zwischen 70 000 und 100 000 Menschen – überwiegend Polen – zum Opfer fielen.« Nachdem Mitglieder der OUN einen unabhängigen Staat ausgerufen hatten, inhaftierte die Gestapo Bandera von Juli 1941 bis September 1944 im KZ Sachsenhausen als »Ehrenhäftling« mit besseren Haftbedingungen. Ende September 1944 wurde Bandera wieder in Freiheit gesetzt. Das NS-Regime brauchte jetzt jeden Mann.
Der Historiker Grzegorz Rossoliński-Liebe, der kein Autor des Sammelbandes von Benz ist, hat bereits in früheren Publikationen darauf hingewiesen, dass Bandera für die in den Jahren 1943/44 durch den militärischen Arm der OUN an 70.000–100.000 Polen verübten Morde in Wolhynien und Ostgalizien eine »moralische Verantwortung« trägt: »Die ›Säuberung‹ der Ukraine von Juden, Polen, Russen und anderen ›Feinden‹ der Organisation war zentraler Bestandteil seiner Ziele.«
Bandera kämpfte für die ukrainische Unabhängigkeit und er diente sich den Nazis an. Für ihn bildeten Freiheit und Faschismus wohl keinen Widerspruch. Der Heroenkult um den 1959 vom KGB in München ermordeten OUN Chef Bandera, die Leugnung seiner Verbrechen und seine Stilisierung zum Märtyrer wird von den Autoren des Buches scharf kritisiert. Banderas Nationalismus ist mit einem zeitgemäßen Demokratieverständnis nicht vereinbar.
Es geht in diesem Buch auch um historische Mythen, aus denen die heutige aggressive russische Politik eines imperialen Reichs entstanden ist und noch immer beruht. Und Mythen haben Russlands Krieg gegen die Ukraine den Boden bereitet. Im Mai des Jahres 2000 wurde die Weltöffentlichkeit dadurch überrascht, dass der neue Präsident Wladimir Putin nach seiner Amtseinführung dem politischen Ritual einen Gottesdienst folgen ließ, der symbolträchtig in jener Kathedrale des Kremls stattfand, die einst russischen Großfürsten und Zaren vorbehalten war. Ein Schelm, wer dabei Böses dachte.
Die Bildung zu einer Nation konnte der Ukraine im 19. Jahrhundert nicht gelingen, da sie bis zum Ersten Weltkrieg vom zaristischen Russland brutal unterdrückt und nach 1918 von der Sowjetunion wie auch von Polen bekämpft wurde, so Frank Golczewski in seinem Beitrag ›Das Ringen der Ukraine um den eigenen Staat‹ – obwohl die Ukraine durch die polnischen Revolten im 19. Jahrhundert zur Selbstständigkeit und Souveränität geradezu ermutigt worden war.
Beim Euromaidan 2013/14 hatten die Ukrainer, die der Korruption und des Machtmissbrauchs überdrüssig waren, ihre Regierung gestürzt. Der Staat Ukraine kämpft seit der russischen Aggression, die 2014 mit der Annexion der Krim begann und am 22. Februar 2022 zum großen Krieg eskalierte, »um traditionelle Integrität und den Erhalt ihrer Souveränität«, so Wolfgang Benz. Seit der »Revolution der Würde« war die Ukraine »als Vasall für Russland verloren«, schreibt Gerhard Simon, der allerdings auch betont, dass die Ukraine gegenüber dem Westen zu lange »in der Uneindeutigkeit« und »im Ungefähren« verharrte.
Die freie und demokratische Welt hat sich mit der Ukraine solidarisch erklärt und unterstützt das überfallene Land auf vielfältige Weise, schreibt Benz. Dessen Präsident Wolodymyr Selenskyj verkörpere »als omnipräsente Symbolgestalt den Willen seines Landes […] als freie und unabhängige Nation Mitglied der europäischen Gemeinschaft zu werden.« Dem Weg in die Union, so Benz, stünden freilich noch erhebliche Hindernisse entgegen: »Probleme des politischen Systems, der sozialen Ordnung, der rechtsstaatlichen Verfassung […].« Ein wichtiges, notwendiges Buch über ein Land im Kampf um seine Souveränität.
Aus dem Nebel des Krieges – Die Gegenwart der Ukraine
Eine sehr empfehlenswerte Anthologie mit überwiegend ukrainischen Autoren und Autorinnen gewährt einen tiefen Einblick in den russischen Krieg gegen ihr Land. Die Autorinnen versuchen, in diesem Kriegsnebel die Konturen wieder sichtbar zu machen. Sie berichten von einem Kriegsalltag, der ihre Gegenwart erzittern lässt und ihr Leben und Denken verändert hat. Herausgeberinnen sind Kateryna Mishchenko, eine Übersetzerin und Verlegerin in Kiew, und Katharina Raabe, die als Lektorin für osteuropäische Literaturen im Suhrkamp Verlag tätig ist. Der äußerst empfehlenswerte Sammelband stellt hochaktuelle Texte vor, die von einer nüchternen Analyse der Lage bis zu schmerzvollen und bitteren Nachtgedanken und einer Chronik der vergangenen Katastrophen reichen: Butscha, Mariupol, Cherson.
Mishchenko bekennt, ihre Seele verstecke sich vor dem schrecklichen Gedanken, dass ein Vernichtungskrieg in ihr Leben getreten sei und alles darin umbringe. »Die Überreste des eigenen Selbst befinden sich irgendwo, nicht unbedingt alle an einem Ort: Etwas lebt in der Vergangenheit, ein Teil bleibt dem Alltag und der Sorge anvertraut. Manchmal gehen die Gedanken einfach verloren.« Ihr Land werde brutal zerstört und bleibe doch hartnäckig bestehen. Diese Hartnäckigkeit stellt auch den Überlebenden eine Aufgabe und die ist gleichsam die Mission dieses Buches. »Wenn man in den Geflüchteten oder den Ukrainern in ihrer Heimat nicht nur Opfer sieht, die man zutiefst bedauert, sondern Zeugen, dann wird auch dieser Krieg nicht als große Naturkatastrophe, sondern als kalkulierter Genozid wahrgenommen.«
Oksana Karpovych wünscht in ihrem Beitrag nicht nur der Hauptstadt der Ukraine, sondern auch sich selbst, »heil zu bleiben«, trotz aller Wunden, körperlicher und seelischer. Nicht an einem Schreibtisch sind einige der Texte entstanden, sondern auf der Flucht. Oksana Dutchak berichtet von diesem Alltag in Warteschlagen, in einer Turnhalle, innerhalb eines »Exodus biblischen Ausmaßes«. Angelina Kariakina schreibt in ihrer bedrückenden Reportage aus einer »Stadt, die sich gewehrt hat«, die aber nicht mehr existiert: Mariupol. Wo Putins Armee die Bevölkerung bis in die Geburtskliniken und Keller verfolgt hat, bis in die Schulen, Theater, Krankenhäuser.
Aleida Assmann, Susanne Strätling und Karl Schlögel versuchen, das Kriegsgeschehen zu kategorisieren. Assmann konstatiert, dass in Osteuropa der Nationalstaatsgedanke anders als im Westen noch sehr lebendig sei, Strätling spricht sich für eine Relektüre der russischen Klassiker unter dem Aspekt der »Dekolonisierung« aus und Schlögel bemerkt an den universalistisch gestimmten deutschen Intellektuellen einen »germanozentrischen Provinzialismus, der Ohne-mich-deutsche-Michel, der sich heraushält, wenn es hart zugeht.«
Titelangaben
Wolfgang Benz Hrsg.: Die Ukraine
Kampf um Unabhängigkeit
Geschichte und Gegenwart
Berlin: Metropol Verlag 2023
456 Seiten, 29 Euro
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Katharina Raabe, Kateryna Mishchenko (Hg.): Aus dem Nebel des Krieges
Die Gegenwart der Ukraine
Berlin: Suhrkamp Verlag 2023
288 Seiten, 20 Euro
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