Vor 77 Jahren hat George Orwell in seiner großen Parabel Animal Farm Tiere in den Mittelpunkt der Handlung gestellt. Eine überaus ernste und damals politisch höchst sensible Anspielung auf die Machtverhältnisse in der Sowjet-Union. Nun hat die inzwischen 77-jährige Schriftstellerin Ulla Hahn auf sehr verspielte und humorvolle Weise ein Eichhörnchen zur Hauptfigur ihres neuen Romans gemacht. Von PETER MOHR
»Tatsächlich hat mir das Schreiben dieses Buchs ein Vergnügen gemacht wie kaum ein Prosa-Buch zuvor«, bekannte die einst als Lyrikerin von Marcel Reich-Ranicki protegierte Autorin, die 2017 ihren großen, 2500-seitigen autobiografischen Zyklus mit dem opulenten Roman Wir werden erwartet abgeschlossen und ihren beschwerlichen Weg von der Nachkriegskindheit in der rheinischen Kleinstadt bis hin in die hochpolitischen 1970er Jahre nachgezeichnet hat.
Das Eichhörnchen Wendelin Kretzschnuss residiert mit Gattin Muzzli in einem Park nahe der Außenalster, dem unmittelbaren Wohnumfeld von Ulla Hahn ziemlich exakt nachempfunden. Ja, es soll auch eine Begegnung mit einem zahm gewordenen Eichhörnchen im Alltag der Autorin gegeben haben.
Ulla Hahn hat das Nagetier mit allerlei menschlichen Eigenschaften ausgestattet. Es mag Musik (vorzugsweise Schubert), es liest sehr gerne und kommt insgesamt sehr gebildet und außerordentlich kommunikativ daher. Muss man das goutieren?
»Der Wendelin hat diesen verfremdenden Blick, der mir erlaubt, mal so richtig vom Leder zu ziehen, ohne immer diese Schwere dabei zu haben. Ich kann mich auch über die Menschen lustig machen«, hat die Autorin über ihre Hauptfigur erklärt. Bedarf es dazu der Perspektive eines Eichhörnchens und einer plumpen Holzhammersymbolik?
Man würde Eichhörnchen Wendelin im zeitgenössischen Jargon einen perfekten »Networker« nennen. Jedenfalls schafft er es im durch den Braunkohletagebau zu trauriger Bekanntheit gelangten Hambacher Forst ein zweites Hambacher Fest zu arrangieren, um dort den politisch fortschrittlichen Menschen von anno 1832 nachzueifern. Zeit, Ort, Mensch, Tier – alles löst sich hier in einem bildungsbürgerlich-folkloristischen Reigen auf. Thomas Morus und Karl Marx, Mutter Teresa und Charles Darwin, aber auch Kater Murr und Kalif Storch und viele andere Größen aus den unterschiedlichsten Epochen tragen zur (theoretischen) Rettung unseres Planeten bei. Um da ein wenig Ordnung hereinzubringen, hat Ulla Hahn dem Roman ein siebenseitiges Quellenverzeichnis angehängt.
Fische werden per Video zugeschaltet, und weil es ein frohsinniges Fest ist, wird auch ganz viel Musik gespielt. Schubert, Beethoven, aber auch der »Buuredanz« von der kölschen Mundartband »Bläck Föös«.
»Die Rettung der Welt hängt von jedem einzelnen ab, der sie bewahrt«, wird von irgendeiner der vielen Figuren geradezu sprechblasenartig verkündet. Das Gute bewahren, dem Krieg abschwören und unsere Umwelt endlich ernst nehmen – das sind die wenig verklausulierten, durchaus ehrbaren Botschaften dieses Roman. Brauchten wir dazu wirklich das Eichhhörnchen Wendelin Kretzschnuss?
»Der Krieg in der Ukraine hat mich zweifeln, aber nicht verzweifeln lassen an meiner Zuversicht. Dass die Klimafrage dadurch ganz massiv in den Hintergrund gerückt ist – das finde ich ganz grauenvoll. Dass statt Frieden das Wort Waffen dominiert«, hatte Ulla Hahn, die seit vielen Jahren mit dem ehemaligen regierenden Bürgermeister von Hamburg, Klaus von Dohnanyi verheiratet ist, kürzlich erklärt. Zweifel daran, ob es der falsche Zeitpunkt für die Veröffentlichung eines solch verspielten Romans über existenzielle Gegenwartsprobleme ist, müssen erlaubt sein.
Nach dieser turbulent-rasanten, märchenhaft anmutenden erzählerischen Reise durch Raum und Zeit glaubt man, dass beim »Hambacher Fest« eine Stimmung herrschte, wie sie im Refrain des Bläck-Föös-Songs »Buuredanz« beschrieben wird: »Links eröm un rächs eröm/Üvver Desch un Bänk un Stöhl/Links eröm un rächs eröm/Jeder föhlt sich wohl he en dem Jewöhl.«
Titelangaben
Ulla Hahn: Tage in Vitopia
München: Penguin 2022
239 Seiten. 24 Euro
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