Kaum Land in Sicht

Roman | Kristine Bilkau: Halbinsel

Die Hamburger Schriftstellerin Kristine Bilkau hat für ihren vierten Roman Halbinsel den Preis der Leipziger Buchmesse 2025 erhalten. Doch auch ohne diese Auszeichnung hätte diese leise, lakonische Mutter-Tochter-Geschichte gewiss eine interessierte Leserschaft gewonnen, allein aufgrund der sensiblen Zwischentöne in einer allgegenwärtigen Thematik. Von INGEBORG JAISER

Rückansicht einer Frau, die die Hände auf dem Rücken verschränktLiegen nicht manche literarischen Themen und Schauplätze gerade förmlich in der Luft? Spielen nicht bemerkenswert viele aktuelle Romane im Norden des Landes – nah an den Meeren, den Grenzen, den Gezeiten? Auch Kristine Bilkau verortet ihr neuestes Werk auf einer Halbinsel am Wattenmeer, nahe Husum. Dort lebt die fast 50jährige verwitwete Bibliothekarin Annett, dort hat sie nach dem frühen Tod ihres Mannes alleine ihre Tochter großgezogen, pflichtbewusst und unter Entbehrungen, immer mit den besten Absichten.

Emissionshandel und Greenwashing

Doch: »Aus Fürsorge erwächst Hoffnung, Hoffnungen verwandeln sich in Erwartungen.« Denen wird Tochter Linn auch lange gerecht. Abitur, Studium, Auslandsaufenthalte, ein gut dotierter Job als Umweltmanagerin. Bis sie eines Tages während eines Vortrags in einem noblen Tagungshotel ohnmächtig wird und zusammenbricht. War es ein Kreislaufkollaps? Ein neurologischer Notfall? Die ersten Anzeichen einer Schwangerschaft? Als Linn zur Erholung in das Haus ihrer Mutter zurückkehrt, ist zunächst von einer einwöchigen Ruhepause die Rede. Doch rasch entwickelt sich daraus ein kompletter Ausstieg, eine Verweigerung aller Verbindlichkeiten. Linn kündigt »wie eine pragmatische Insolvenzverwalterin« ihren Job und ihre Wohnung in Berlin, geht nicht mehr ans Telefon und vertrödelt die Tage in ihrem alten Kinderzimmer. Scheinbar.

So kippt die anfängliche Freude Annetts über die Rückkehr ihres Kindes unmerklich in Unverständnis und Verärgerung um. »Was ist aus deinen Ideen geworden? Deinem Aufbruch? Deiner Energie? Das kann doch nicht alles weg sein«, hadert die Ich-Erzählerin mit dem Rückzug ihrer Tochter. Deren Standpunkt sich erst langsam offenbart. Hier der persönliche Zukunftsglaube, die Fürsorge und Hoffnung Annetts – dort die Desillusionierung Linns angesichts globaler Klimakatastrophen wie Trockenheit, Waldbrände, steigender Meeresspiegel. Statt enthusiastischer Projekte ist sie auf Emissionshandel und Greenwashing gestoßen. Der schwelende Mutter-Tochter-Konflikt kulminiert schließlich in einer tragischen Situation während einer Wattwanderung. Literarische Anleihen werden hier wach: unwillkürlich denkt man an Theodor Storms Schimmelreiter, an Martin Walsers Ein fliehendes Pferd.

Was ich sagen will

Die 1974 in Hamburg geborene und in Schleswig-Holstein aufgewachsene Autorin Kristine Bilkau dürfte die Schauplätze und Topoi ihres Romans sehr genau kennen: die Nordsee, die schaurigen Legenden, Märchen und Mythen. Doch Bilkaus Stärke besteht darin, ruhig und bedächtig wechselnde Stimmungen einzufangen und Gegensätze auszuloten. Bereits ihr mehrfach ausgezeichnetes Debüt Die Glücklichen (2015) wurde von Feuilleton begeistert aufgenommen, ihr Roman um das mysteriöse Verschwinden einer norddeutschen Familie, Nebenan (2022), stand auf der Shortlist zum Deutschen Buchpreis. So erscheint die Verleihung des Preises der Leipziger Buchmesse 2025 für Halbinsel wie eine schlüssige Fortführung aller Würdigungen.

Auch mit Hinweisen auf die amerikanische Schriftstellerin Elizabeth Strout bewirbt der Verlag Bilkaus aktuellen Roman. Und tatsächlich dringt ein Hauch dieses speziellen Sounds durch, wenn die Ich-Erzählerin Annett Sätze mit »Was ich sagen will« beginnt, so als wende sie sich uns geradewegs zu, mit allem Zaudern, Hadern, vorsichtigen Abwägen und Absichern. Aus dieser Verletzlichkeit spricht zugleich verhaltener Stolz wie vage Irritation angesichts der elementaren Lebensfragen. Wieviel Zuversicht und Stärke können wir unseren Kindern mit auf den Weg geben? Welches Erbe tritt die kommende Generation an? Und wann kehren sich die Vorzeichen um? Zumindest in Kristine Bilkaus Halbinsel bahnt sich eine Annäherung zwischen Mutter und Tochter an, vorsichtig und versöhnlich.

| INGEBORG JAISER

Titelangaben
Kristine Bilkau: Halbinsel
München: Luchterhand 2025
220 Seiten. 24 Euro
| Erwerben Sie diesen Band portofrei bei Osiander

Reinschauen
| Leseprobe

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Teamspirit

Nächster Artikel

Drei Gedichte

Weitere Artikel der Kategorie »Roman«

Drei Löcher im Hintern

Roman | Albert Sánchez Piñol: Der Untergang Barcelonas Der 11. September ist in Katalonien nicht erst seit 2001 ein Gedenktag. Fast dreihundert Jahre vor den fürchterlichen Anschlägen in den USA erlebten die Katalanen ihr 9/11, nämlich den Untergang Barcelonas als Folge des blutigen Spanischen Erbfolgekriegs im Jahr 1714. PETER MOHR hat den Roman ›Der Untergang Barcelonas‹ von Albert Sánchez Piñol gelesen.

Marokkanische Scharade

Roman | Martin Suter: Melody

Verunglückt, ermordet, verschleppt oder einfach nur untergetaucht? Welches Schicksal ist der vor 40 Jahren spurlos verschwundenen jungen Frau namens Melody widerfahren? Und wie weit ist den smarten Geschichten ihres ehemaligen Verlobten zu trauen? In der vornehmen Zürcher Upper Class beginnt Martin Suters neuer Roman, der den Leser gleich mehrfach hinters Licht führen wird. Von INGEBORG JAISER

Wer ich bin? Wer bist du?

Roman | Jürgen Bauer: Was wir fürchten Wie schon in seinem Debüttext aus dem Jahr 2013 Das Fenster zur Welt stellt Jürgen Bauer in seinem neuen Roman Was wir fürchten die Frage nach dem Urgrund des Menschen. In seinem Erstling fand er die Antwort noch ganz zielgerichtet in einem anderen Menschen, einem Gegenüber, einem Mitspieler und dessen Geschichte, Erfahrungen und Vergangenheit. Diesmal jedoch verunsichert er sein Lesepublikum stark. Denn den jungen österreichischen Autor interessieren nicht die Typen, die auf der Erfolgswelle des Lebens schwimmen oder zumindest nach außen hin die Fassade des Glücks und Erfolgs aufrecht halten können. Jürgen Bauer

New Orleans im Ausnahmezustand

Krimi | James Lee Burke: Sturm über New Orleans New Orleans im Ausnahmezustand. Nach Hurrikan »Katrina« herrscht das Chaos in der zu drei Vierteln überfluteten Stadt. Fast 2.000 Tote, unzählige Obdachlose und eine US-Regierung, die mit der Katastrophe nicht zurechtkommt, ganze Stadtteile tagelang sich selbst überlässt. In dieser Atmosphäre lässt James Lee Burke (*1936 in Houston/Texas) seinen 16. Dave-Robicheaux-Roman spielen. Es ist sein zornigster und einer, der sich ohne Wenn und Aber auf die Seite jener stellt, die, wie der Autor schreibt, sich mit Recht als die Opfer eines unerhörten Verrats der Regierenden an der eigenen Bevölkerung sehen dürfen. Mit

Argentinische Welten

Roman | María Cecilia Barbetta: Nachtleuchten Fantasievoll und voller Wortspiele sind die Romane der argentinischen Schriftstellerin María Cecilia Barbetta, für die sie zu Recht ausgezeichnet wurde. In Nachtleuchten wirft sie einen freundlichen Blick auf das Ende der Ära Perón. Ganz aktuell erhielt sie den neuen Chamisso-Literaturpreis, der von der Wirtschaft und Zivilgesellschaft in Dresden gestiftet wurde. Von BETTINA GUTIERREZ