Roman | Andrea Sawatzki: Ein allzu braves Mädchen
Andrea Sawatzki war in ihrer Jugend Ein allzu braves Mädchen. So hat sie der Protagonistin ihres Debütromans nicht nur die schmale Statur und auffallend rotblonde Haare verliehen, sondern auch die Erfahrung kindlicher Überforderung. Die schließlich in einen tragischen Mordfall mündet. Von INGEBORG JAISER
Nun hat sich auch Andrea Sawatzki – bekannt als Frankfurter Tatort-Kommissarin Charlotte Sänger – in die Riege der schriftstellernden Schauspieler eingereiht. Über längere Zeit hat sie an ihrem ersten Roman Ein allzu braves Mädchen gearbeitet, oft nur sporadisch, in den Drehpausen aufs iPhone gesprochen, an den Wochenenden im Kreise ihrer Familie aufs Papier gebracht. Noch bis Juni tourt sie auf Lesereise durch ganz Deutschland, um stolz ihr Debüt zu präsentieren.
Rätselhafter Mord
In einem verlassenen Waldstück wird eine verwirrte, verstörte junge Frau in einem derangierten Paillettenkleid entdeckt und in eine psychiatrische Klinik gebracht. Zeitgleich findet man einen alten Mann ermordet in seiner weitläufigen Münchner Villa, vermutlich mit einem scharfkantigen Gegenstand erschlagen. Nur das anhaltende Bellen seiner Wachhunde lässt die Nachbarn aufmerksam werden.
Obwohl sich die junge Frau hartnäckig weigert, über ihre Person Auskunft zu geben, möglicherweise sogar an Amnesie leidet, gelingt es der einfühlsamen Therapeutin Dr. Minkowa, nach und nach das Schweigen zu brechen. In täglichen Sitzungen öffnet sich die verstörte Klientin, gibt Stück für Stück ihr Leben, ihre Traumata, ihre Verletzungen preis. »Was strengt Sie so an?«, fragt Dr. Minkowa neugierig. »Ich muss so viel vergessen«, gesteht die Patientin, die sich schließlich als Manuela Scriba entpuppt. »Die Dunkelheit in mir…«
Überfordertes Kind
Immer war es dunkel, wenn die kleine Manuela auf ihren an Demenz erkrankten Vater aufpassen musste, weil die Mutter als Krankenschwester in Nachtschichten arbeitete. Vollkommen mit der Situation überfordert, erlebte Manuela schon in jungen Jahren tiefe Hilflosigkeit und verzweifelte Ohnmacht angesichts der Weglauftendenzen und ungebremsten Aggressionen des Kranken. Oft wusste sie sich nicht anders zu helfen, als den unruhigen Vater mit einem Springseil an einen Sessel zu fixieren.
Albträume, Kindheits-Traumata und Suizidversuche gipfeln schließlich in einer Katastrophe. So entwickelt sich Ein allzu braves Mädchen weniger zum (eigentlich geplanten) Krimi als zu einem abgrundtiefen Psychogramm, zur Dokumentation einer emotionalen Überforderung.
Verschwiegenes Tabuthema
Reine Fiktion? Mitnichten. Andrea Sawatzki hat in ihrem Romandebüt durchaus Teile ihrer eigenen Kindheit verarbeitet, pflegte sie doch selbst fünf Jahre lang ihren Vater, der an Alzheimer erkrankt war. Das allerdings zu Zeiten, als Demenz noch zu den verschwiegenen Tabuthemen gehörte. Erst später hat Sawatzki aufmerksam recherchiert, was die Krankheit und das vernichtende Gefühl der Ausweglosigkeit auch mit gesunden Familienangehörigen und mit Pflegepersonen anstellen kann.
Als Andrea Sawatzkis Vater starb, war sie selbst dreizehn Jahre alt. Von ihm – einem Journalisten – hat sie die Affinität zum Schreiben geerbt, die sie nun endlich auslebt. Unzählige Anläufe und über ein Dutzend verschiedene Versionen gehören zur Vorgeschichte dieses Debüts. Trotz aller Parallelen zum eigenen Leben merkt die Autorin dennoch an: »Dieser Roman ist keine Autobiografie.«
| INGEBORG JAISER
Titelangaben
Andrea Sawatzki: Ein allzu braves Mädchen
München: Piper 2013
172 Seiten. 17,90 Euro