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On the Road again

Roman | Jürgen Bauer: Das Fenster zur Welt

Das Fenster zur Welt erzählt vom Coming-Out zweier ganz unterschiedlicher Menschen und vermittelt dabei eine klare Botschaft: Es ist nie zu spät im Leben. Eine Rezension von HUBERT HOLZMANN

fenster welt

Typisch für die österreichische Küche wird das Backhendl, bevor man es in der Panade wälzt, an den entscheidenden Stellen grob gebrochen, um es passend in Form zu bringen. Ähnliches geschieht gelegentlich bei dem Versuch, einen Verstorbenen für die Aufbahrung im Totenbett ins Sonntagsgewand einzukleiden. Im Roman Das Fenster zur Welt von Jürgen Bauer ist für Hanna Swoboda, eine der beiden Hauptfiguren, dieses Geräusch von brechenden Knochen das einschneidende Schlüsselerlebnis und der Grund dafür, ihre Mutter, nachdem sie diese bis in den Tod gepflegt hat, auch ein letztes Mal für das Begräbnis herzurichten.

So grotesk dieser Beginn auch anmuten mag – im Knochenmann von Josef Hader (2009) wurde dieses Motiv auf makabre Weise filmisch in Szene gesetzt –, so kurios ist die Ausgangssituation der Geschichte, die in der österreichischen Provinz spielt, ebenfalls als Endpunkt komponiert: Die 80-jährige Hanna, die zeitlebens mit ihrer Mutter im selben Haus zusammenwohnt und selbst im hohen Alter noch an sie gebunden ist, betreut und begleitet die Alte bis in ihr hundertstes Jahr hinein am Kranken- und Pflegebett. Und ist nun selbst am Ende ihres Lebens angekommen.

Noch eine Drehung an der Lebensschraube

Was Jürgen Bauer, der journalistisch zu Theater, Tanz und Oper schreibt, hier auf den ersten Seiten schildert, erinnert an eine Milieustudie eines naturalistischen Autors: Er zeichnet das Leben der beiden Frauen in einfachsten Verhältnissen in einer Schlichtwohnung: »Sie sah sich in der kleinen Wohnung ihrer Mutter um, in der sie jeden Winkel kannte. Nur eine winzige Küche und ein Schlafzimmer, kein Vorraum, kein Badezimmer, auch sonst kein Luxus. Und doch hatten sie hier fast dreißig Jahre gut gewohnt, Wohnung an Wohnung, nur durch eine Gipswand getrennt.« Für Hanna kommt der Tod ihrer hochbetagten Mutter noch immer ein klein wenig überraschend. Ist aber letztendlich dennoch eine Befreiung.

Die zweite Hauptperson ist der eher mittelmäßige Schauspieler Michael Landmann, der ebenfalls vor einer entscheidenden Wendung in seinem Leben steht. Er wurde von seinem Freund Ernst verlassen, weil dieser seine depressive Art und seine Abwehrmechanismen nicht mehr aushalten konnte. Für Michael eigentlich das Ende: Er hat seinen Job verloren, die große Wohnung ist zu teuer und eine Aussicht auf Besserung gibt es nicht.

Dass Michael dem Freund noch immer nachweint und die Trennung nicht akzeptiert, macht die Sache nicht leichter. Immer wieder kassiert er eine Abfuhr: am Telefon oder bei einer Begegnung in einem Schwulenclub: »’Ich bin hier, um Spaß zu haben.’ ’Kannst Du das überhaupt?’ ’Ich hatte ihn bis jetzt.’ Er log.« Seine Geschichte ist bedrückend. Unfähig für ein ganz normales Leben. Mit Elvira, einer alten Freundin, bespricht er seinen Kummer.

Lange Seelenmonologe

Dazwischen Passagen der Reflexion: »Ich kaufe Möbel ein, aber ich könnte auch etwas ganz anderes machen. Oder ich könnte gar nichts machen. Mir fehlt jegliches Gefühl. Ich dachte, ich wäre traurig, aber das ist es nicht. Ich leide nicht. Oder ich leide schon, aber nicht an Kleinigkeiten, also nicht an Dingen, die passieren oder eben nicht passieren. Wenn ich leide, dann am Gesamten…« Michael kehrt seine Geschichten nach außen. Endlos monologisierend. Ihm gegenüber als stumme Zuhörerin: Elvira – am Telefon, im Café, im Supermarkt beim Beladen des Einkaufwagens.

Dann die Begegnung von Hanna und Michael bei einem Speed-Dating. In einem Café der Ortschaft sitzen sich die beiden zufällig gegenüber. Hanna kennt Michael, seit er als kleines Kind mit seiner Mutter am Spielplatz der Roten Falken geschaukelt hat. Sie tauschen Erinnerungen aus. »Ich bin hier genauso fehl am Platz wie du. Ich glaube, es ist egal, worüber wir reden. Aber du hast mich auch noch nicht gefragt, was ich hier mache. Das finde ich sehr angenehm.«

Elvira hat nur Spott für Michaels Kontakt zu Hanna übrig: »Ich war dir als Schwulenmutti wohl zu jung. Es musste eine Oma werden.« Aus diesen Worten klingen Unsicherheit und Neid. Mit Hanna kann Michael sein Leben Revue passieren lassen. An diesem Punkt der Geschichte nimmt der Erzähler die Fäden in die Hand: Er fasst auf einigen Seiten die weiteren Ereignisse zusammen und berichtet von wichtigen Veränderungen.

Beinahe klingt es wie eine Art Revision, eine Art Durchsicht. Deutet er nämlich immer wieder Michaels Haltungen, Ansichten, Innenleben: »Es war längst ein Schwebezustand geworden, eine neblige Unsicherheit. Nur hinter verschlossenen Türen kostete er seinen Schmerz aus, indem er ganz bewusst die verblassenden Erinnerungen an Ernst wachrief. Er wollte nicht, dass der Schmerz verschwand, war dieser doch längst zu einem gewohnten Gefühl geworden, das eine Sicherheit bot, die Michael nicht auch noch verlieren wollte. Nur was folgte daraus?«

Die Ausfahrt ins Nirgendwo

An dieser Stelle ergreift endlich Hanna die entscheidende Initiative. Sie leiht sich das Auto ihrer Tochter und lädt Michael zu einer gemeinsamen Ausfahrt ein: einer Fahrt in die Vergangenheit und in die Zukunft. »Michael wurde durch das Geräusch einer Hupe geweckt… ’Pack ein paar Sachen, wir fahren weg.’ … Was konnte die alte Dame schon Schlimmes mit mir vorhaben?«

Auch Hanna hat Angst vor dem Alleinsein. Aber zu zweit hinter der Windschutzscheibe erfasst sie eine neue Kraft, bekommt sie Ruhe und Gelassenheit. Allerdings wird die Reise keine Fahrt ins Blaue, wie damals vor 40 Jahren die Kreuzfahrt nach Venedig, die sie zusammen mit ihrer Mutter unternommen hat. Der Weg führt diesmal zurück ins eigene, nicht gelebte Leben: Hanna hat etwas gut zu machen. Und auch Michael kann auf dieser Fahrt einiges lernen, kann vieles neu überdenken. Reden hilft ihnen hierbei nicht mehr. Worte sind nicht mehr alles. Und beiden bleibt nicht viel Zeit. Michael muss sich entscheiden: Will er in seinem Selbstmitleid verharren oder wagt er den Absprung? – Ins Leben?

Jürgen Bauers Text ist nicht immer frei von Brüchen: An einigen Stellen schraubt sich der Erzähler sehr in den Vordergrund, gelegentlich fallen einige etwas zu psychologisierende Passagen heraus. Klingen wie nach Lebensbeichte, wie therapeutische Aufzeichnungen. Kann es am Ende also wirklich losgehen ins Leben? Jürgen Bauers Debütroman Das Fenster zur Welt – ein Buch von Liebe und Abschied – hat stellenweise eine gute Portion Humor, ist trotz allem ein sehr innerliches Buch.

| HUBERT HOLZMANN

Titelangaben:
Jürgen Bauer: Das Fenster zur Welt
Wien: Septime Verlag 2013
176 Seiten. 17,90 Euro

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