/

Alles zerstört

Roman | Thilo Krause: Elbwärts

»Es gab ein reibendes Geräusch, ein dumpfes Schlagen und Schaben. Ich weiß nicht mehr, ob Vito schrie oder ob ich ihn nicht habe schreien hören«, heißt es im Romandebüt Elbwärts des 43-jährigen Thilo Krause, der in Dresden geboren wurde und seit einigen Jahren in Zürich lebt. Von PETER MOHR

Der verhängnisvolle Jugendunfall hat das Leben des Ich-Erzählers und seines besten Freundes Vito schlagartig verändert. Die Teenager liebten es, ins Elbsandsteingebirge zu klettern, genossen gemeinsam die Einsamkeit und den erhabenen Blick auf die zwei kleinen Dörfer, die aus der Höhe einen pittoresk-spielzeughaften Anstrich erhielten. Dann stürzte der schlanke, kletterversierte Vito ab und verlor bei dem Unfall ein Bein.

Nach der Rückkehr aus dem Krankenhaus äußert Vito den Wunsch, noch einmal in die Wand gehen zu wollen. Latente Schuldgefühle lassen bei der Hauptfigur turmhohe Hemmungen vor und beim ersten Wiedersehen mit Vito aufkommen.

»In Bildern von großer dichterischer Intensität gelingt es Krause, das Eintauchen-Wollen in eine unwiederbringlich verlorene, nicht mehr zu berichtigende Vergangenheit sinnlich fassbar zu machen«, erklärte kürzlich die Jury, als Thilo Krause für seinen Romanerstling mit dem Robert-Walser-Preis ausgezeichnet wurde.

Nach etlichen Jahren lässt Krause seinen Protagonisten mit samt seiner Frau Christina und der gemeinsamen Tochter, die stets nur »die Kleine« genannt wird, in seine Heimat zurück kehren und ein großes, stark renovierungsbedürftiges Haus beziehen. Krause erzählt sehr assoziativ, losgelöst von Raum und Zeit. Erinnerungen und Gegenwart werden miteinander (auf fast meditative Weise) verknüpft. Ist es Sehnsucht nach der Heimat? Oder ist es ein innerer Zwang, der ihn zum Ort des Unfalls zurück dirigiert? Mit der unaufgeregten Sprache eines Lyrikers, voller Allegorien und präziser Naturbilder, werden wir durch die Handlung geführt. Nicht alles ist vollends gelungen, muss man doch gleich zu Anfang lesen, es »roch nach altem Fett und Streit«.

Die Frage nach Schuld und Wiedergutmachung, die Mischung aus Scham und Angst, die den Ich-Erzähler quält, weil er seiner Frau nie von dem Unfall erzählt hat, und die unsicheren politischen Zeiten lassen Krauses Figur einen Rückzug ins Innere antreten. Für ihn gibt es kein Gefühl der Geborgenheit, sondern er begegnet einer erdrückenden Omnipräsenz des Misstrauens.

Es gibt in diesem stillen Roman (ohne vordergründiges Moralisieren) über Jahrzehnte hinweg eine gedankliche Verbindung zwischen den FDJ-Paraden in der Schulzeit bis hin zu den Umtrieben der Neo-Nazis an den Elbhängen. Hier existiert  ein fruchtbarer (oder soll man sagen: furchtbarer) Nährboden für extreme politische Ideologien, die sich wie ein unsichtbares, aber offensichtlich sehr feinmaschiges Netz über das Elbsandsteingebirge zu legen scheinen. Der Anblick von Nazi-Symbolen an den geliebten Felswänden lässt die Hauptfigur schier verzweifeln. Der Protagonist hat alles verloren. Zwischen dem ersten Satz (»Das ist mein Fels«) und der letzten Sequenz (»Auch hier oben alles zerstört, selbst dort, wo das Wasser nicht war.«) reihen sich schmerzhafte Verluste endlos aneinander. Ein Gefühl der Ohnmacht, des Sich-Fremd-Fühlens in der Heimat ist allgegenwärtig.

| PETER MOHR

Titelangaben
Thilo Krause: Elbwärts
München: Hanser 2020
207 Seiten, 22 Euro
| Erwerben Sie dieses Buch portofrei bei Osiander

Reinschauen
| Leseprobe

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Lass dich nicht unterkriegen!

Nächster Artikel

Klein; aber oho!

Weitere Artikel der Kategorie »Debüt«

Weniger wäre mehr in Koethi Zans Erstlingsroman

Roman | Koethi Zan: danach In Koethi Zans Thriller-Debüt Danach hat eine junge Frau drei Jahre in der Gefangenschaft eines Psychopathen verbracht. Ein Jahrzehnt später soll der Mann vor einen Bewährungsausschuss und eventuell wieder auf freien Fuß kommen, wenn Sarah Farber nicht gegen ihn aussagt. Aber die wagt sich kaum, ihre New Yorker Wohnung zu verlassen, weil sie Angst hat, dass dann alles wieder von vorn beginnt. Von DIETMAR JACOBSEN

Was vom Bade übrig blieb

Comic | Pierre Oscar Lévy/Frederik Peeters: Sandburg Die Zeit rennt davon, der Raum wird klein: Sandburg seziert das Miteinander unterschiedlicher Menschen in einer mysteriösen Extremsituation. Von CHRISTIAN NEUBERT

Coming-of-Age in Berlin Kurfürstenstraße

Roman | Debüt | Stefanie de Valesco: Tigermilch Mariacron, Milch und Maracujasaft – Tigermilch, das ist das Wahlgetränk der pubertierenden Ich-Erzählerin Nini und ihrer besten Freundin Jameelah. Sie trinken sich Mut an, Mut für die Welt und das Leben. Derbe, aufrüttelnd, sanft, verstörend, vielschichtig: Stefanie de Valescos Debütroman Tigermilch ist vieles, doch sicherlich nichts für zartbesaitete Gemüter. Aber allemal lesenswert. Von TANJA LINDAUER

Der Blick über den Gartenzaun

Jugendbuch | Huntley Fitzpatrick: Mein Sommer nebenan Selbst bestimmen ist eine wichtige Forderung von Teenagern. Aber selbstbestimmtes Handeln hat Folgen und diese sind nicht immer leicht zu tragen. Zuweilen verändert sich dadurch die ganze vertraute Welt auf schmerzliche Weise. Eben diese Erfahrung läßt Huntley Fitzpatrick in Mein Sommer nebenan die siebzehnjährige Samantha machen, die trotz strengem Verbot ihrer Mutter dem heimlichen Blick in den Nachbarsgarten Taten folgen lässt. Von MAGALI HEISSLER

Nairobi 2007: Ein Massai sucht einen Mörder

Krimi | Richard Crompton: Wenn der Mond stirbt Nairobi im Dezember 2007. Vor der anstehenden Präsidentschaftswahl bauen sich die Spannungen zwischen den politischen Lagern und unterschiedlichen Volksgruppen in Kenia immer mehr auf. Ist unter den Rivalisierenden auf den Straßen auch der Mörder einer jungen Frau zu finden, dem der Massai-Ermittler Mollel nachjagt? Richard Cromptons Krimidebüt Wenn der Mond stirbt hat Atmosphäre und ist kenntnisreich und spannend geschrieben. Von DIETMAR JACOBSEN