/

Verrückt und vertraut

Roman | J.M.G. Le Clézio: Alma

»Hier auf dieser Insel haben sich die Zeiten, die Geschlechter, die Leben, die Legenden, die berühmtesten Abenteuer und die unbekanntesten Ereignisse, die Seeleute, die Soldaten, die Söhne aus gutem Hause, aber auch die Pflüger, die Arbeiter, die Dienstboten und die Besitzlosen miteinander vermischt.« Mit diesen Worten beschreibt der französische Schriftsteller J.M.G. Le Clézio die Insel Mauritius, den Handlungsschauplatz seines soeben erschienenen Romans ›Alma‹. Von PETER MOHR

Clezio - Alma Der Nobelpreisträger betreibt darin – aus der Perspektive von zwei völlig unterschiedlichen Figuren – eine Art Wanderung zu den eigenen biografischen Wurzeln. Einer der Protagonisten ist der gut situierte Wissenschaftler Jérémie Felsen (ein Alter-Ego des Autors), dessen Familie einst eine »Alma« genannte Zuckerrohrplantage auf Mauritius besaß. »Alma« bedeutet »die Seele«, aber auch »fruchtbar«. Als krasser Gegenentwurf zu Jérémie fungiert Dodo, ein von seiner schweren Krankheit auch äußerlich gezeichneter, obdachloser Eingeborener. Nicht zufällig trägt er den Namen eines Vogels, der vor 300 Jahren ausgestorben ist und den es nur auf Mauritius gab.

Jérémie findet nicht das, was er auf Mauritius tatsächlich sucht. Hotelkomplexe, architektonische Sünden, Einkaufszentren, der Kommerz dominiert allenthalben. Ist es ein Trost für ihn, dass er sich in eine blutjunge Einheimische verliebt? Dodo reist derweil nach Paris und trifft dort auf die Clochards. Das wirkt schon einigermaßen bizarr, wenn sich die Ärmsten aus der Metropole und der Obdachlose aus der einstigen Kolonie begegnen. Nichts ist hier zu spüren von Fraternité und Egalité, und gerade in dieser Sequenz spiegelt sich Le Clézios gespaltenes Verhältnis zum institutionalisierten Frankreich besonders augenfällig.

Als Jean-Marie Gustave Lé Clezio im Oktober 2008 völlig überraschend der Nobelpreis für Literatur zugesprochen wurde, rühmte ihn die Stockholmer Akademie als »Verfasser des Aufbruchs, des poetischen Abenteuers und der sinnlichen Ekstase – ein Erforscher einer Menschlichkeit außerhalb und unterhalb der herrschenden Zivilisation.« Die deutschsprachige literarische Öffentlichkeit reagierte damals mit Unverständnis. Marcel Reich-Ranicki erklärte, dass er den Autor nicht kennt, Sigrid Löffler bezeichnete die Jury-Entscheidung als »bizarr«.

Le Clézios Werk wird nicht unwesentlich mitgetragen durch eine gehörige Prise Exotik, von seiner Sehnsucht nach der Fremde und seiner Affinität zum einfachen, beinahe archaischen Leben. Kein Wunder bei dieser von großer Internationalität geprägten Vita. Le Clézio wurde am 13. April 1940 in Nizza als Sohn eines aus Mauritius stammenden Tropenarztes und einer Engländerin geboren. Seinen Vater lernte er allerdings erst im Alter von sieben Jahren kennen, als er mit seiner Mutter und seinem älteren Bruder nach Nigeria und Kamerun reiste.

In jüngerer Vergangenheit hat sich Le Clézio literarisch verstärkt seinem eigenen Leben und dem seiner Familienmitglieder gewidmet – angefangen mit dem 1991 erschienenen ›Onitsha‹, das von der Reise eines Jungen berichtet, der in Afrika seinen Vater kennenlernen will. Nach den erzählerischen Porträts seines Großvaters in ›Der Goldsucher‹ und seines Vaters in ›Der Afrikaner‹ widmete sich Le Clézio im Roman ›Lied vom Hunger‹ (2009) dem Lebensweg seiner Mutter, die zweifelsfrei für die Figur der Protagonistin Ethel Brun Pate gestanden hat. Nach Erscheinen der Originalausgabe im Jahr 2008 rangierte dieser Roman in Frankreich wochenlang ganz oben auf den Bestsellerlisten. »Ich habe diese Geschichte im Gedenken an eine junge Frau geschrieben, die ungewollt mit zwanzig Jahren eine Heldin war«, heißt es auf der letzten Seite des Buches, mit dem er seiner Mutter ein eindrucksvolles Denkmal gesetzt hat.

Mit ›Alma‹ hat der gealterte Autor nun eine verschachtelte, polyphone, biografische Grenzerkundung betrieben. Geschichte und Gegenwart lässt er hier ungebremst aufeinanderprallen, bittere Armut und gigantischer Reichtum existieren im Inselstaat des Indischen Ozeans, der kleiner ist als das Saarland, in unmittelbarer Nachbarschaft. Über allem schwebt in ›Alma‹ so etwas wie eine doppelte Barbarei durch den einstigen Sklavenhandel und den (ungezügelten) zeitgenössischen Tourismus.

Trotz seines kritischen Grundtenors bewahrt sich Le Clézio, diese absolut singuläre Stimme in der europäischen Literatur, eine märchenhafte Leichtigkeit. Er versteht es immer wieder, den Zauber und die kulturelle Vielfalt dieses Eilands, das niederländische, portugiesische, französische und britische Kolonie war, zu versprühen.

Und mit dem letzten Satz haben wir die endgültige Gewissheit, dass »Dodo« eine ganz besondere Bedeutung in diesem so faszinierend disparaten Roman hat. Es war »der verrückte und zugleich vertraute Beiname des flugunfähigen Vogels und der Name eines Unbekannten in meiner eigenen Geschichte.«

| PETER MOHR

Titelangaben
J.M.G. Le Clézio: Alma
Aus dem Französischen von Uli Wittmann
Köln: Kiepenheuer und Witsch 2020
355 Seiten, 25 Euro
| Erwerben Sie dieses Buch portofrei bei Osiander

Reinschauen
| Leseprobe

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

»Denkt an das fünfte Gebot: Schlagt eure Zeit nicht tot.«

Nächster Artikel

Autoliebe im Miniformat

Weitere Artikel der Kategorie »Menschen«

Weder Historiker noch Prophet

Menschen | Zum Tod des Schriftstellers Milan Kundera

»Man muss sie lieben, die Bedeutungslosigkeit, man muss lernen, sie zu lieben«, verkündete Ramon, eine der Hauptfiguren in Milan Kunderas letztem Roman ›Das Fest der Bedeutungslosigkeit‹ (2015). Es war ein spielerisches Buch der großen Gegensätze – von Liebe und Hass, von Tragik und Komik, von Wahrheit und Lüge, von Aufrichtigkeit und Selbsttäuschungen. Von PETER MOHR

Die Liebe als Brücke

Menschen | Vor 125 Jahren wurde der Dramatiker Thornton Wilder geboren

Als er am 6. Oktober 1957 in Frankfurt den Friedenspreis des deutschen Buchhandels erhielt, wurde er als »großer Dichter und Dramatiker, der in wirrer Zeit den Glauben an die geistigen Kräfte und die Bindung an höhere Mächte aufrechterhalten half, der Schicksal und eigene Verantwortung zu deuten wusste, der ernst und heiter das Leben zeichnete und das Ideal wahrer, edler Menschlichkeit zu schaffen trachtete« gefeiert. Von PETER MOHR

Der Entdecker der Langsamkeit

Menschen | Zum 75. Geburtstag des Schriftstellers Sten Nadolny »Nun sind wir im Bett, ich so mehr theoretisch, der Junge aber richtig, mit Flanellnachthemd und unter dem Plumeau. Er ist so müde, dass er sofort einschläft. Das ist jetzt ein spannender Moment: Schlafe ich auch ein, schlafe ich seinen Schlaf, träume ich seine Träume oder eigene?« Diese Gedanken gehen dem pensionierten Richter Wilhelm Weitling durch den Kopf – Hauptfigur in Sten Nadolnys letztem Roman ›Weitlings Sommerfrische‹ (2012). Ein Porträt von PETER MOHR

Die sechs Elemente der Kunst

Menschen | Kunst: Interview mit Timo Dillner (Teil II) Im ersten Teil unseres Interviews mit Timo Dillner stand das Wesen der Kunst im Mittelpunkt. Heute unterhält sich FLORIAN STURM mit dem Künstler über poetischen Contineralismus und die Frage, warum man Künstler »wird«.

Die Literatur-Nobelpreisträger 2019

Menschen | Olga Tokarczuk und Peter Handke Die Literatur-Nobelpreisträger für die Jahre 2018 und 2019 wurden gestern von der Stockholmer Akademie bekannt gegeben. Die mit jeweils rund 830.000 Euro dotierten Auszeichnungen gehen an Olga Tokarczuk und Peter Handke. Die Doppel-Vergabe war wegen eines Skandals (verbunden mit mehreren Rücktritten) im Nobelpreiskomitee nötig geworden. Von PETER MOHR