Mit schöner Regelmäßigkeit schreibt Christoffer Carlsson in seiner schwedischen Heimat Bestseller. Auch in Deutschland beginnt sich das langsam herumzusprechen. Mit Wenn die Nacht endet liegt auf Deutsch jetzt der siebente Roman des 1986 geborenen promovierten Kriminologen vor. Es ist der dritte, in dem der Halstader Ermittler Vidar Jörgensson eine Hauptrolle spielt, auch wenn er diesmal erst nach etwas mehr als 200 Seiten den Schauplatz betritt. Und wie seine beiden Vorgänger baut auch Wenn die Nacht endet vor allem auf die Beziehungen zwischen dem halben Dutzend junger Menschen, die im Mittelpunkt des Buches stehen, statt auf krachende Action. Von DIETMAR JACOBSEN
Mikael Söderström ist erschlagen worden. Nach einer wilden Party im Hause eines Schulfreundes hat er auf dem Nachhauseweg seinen Mörder getroffen. Am nächsten Morgen entdeckt ein Bauer aus der Gegend beim Gassigehen mit seinem Hund die Leiche im Kofferraum eines auf offenem Feld geparkten Autos und alarmiert die Polizei. Die besteht in dem Städtchen Oskarström, zu dem das Dörfchen Skavböge gehört, aus zwei Frauen: der erfahrenen Gerd Pettersson und Siri Bengtsson, für die der Fall Söderström ihr erster ist. Die beiden vermuten den Täter im Kreise jener Jugendlichen, die die Abwesenheit der Eltern eines der ihren zu einer wilden Fete genutzt haben. Doch die Handvoll 18-Jähriger, die alle ein und dieselbe Klasse im Oskarströmer Gymnasium besuchen, schweigt.
Ein Toter im Kofferraum
Dafür sprechen die kurz darauf die ganze Gegend aufrüttelnden Ereignisse eine umso deutlichere Sprache. Geradeso, als wäre die Ermordung Mikaels der Startschuss für alles bisher im Verborgenen lauernde Unheil gewesen, stirbt Killian Persson, einer aus der verdächtigen Schülerclique, als er sich von den ermittelnden Polizisten in die Enge gedrängt sieht und zu fliehen versucht. Ob es sich bei ihm freilich um den gesuchten Mörder handelt, kann nach seinem Unfalltod nicht mehr mit Sicherheit gesagt werden. Doch weil nur wenig später das halbe Dorf bei einem durch eine Sprengstoff-Explosion ausgelösten Erdrutsch von der Landkarte verschwindet, lenkt den Fokus der Ermittler auch schnell auf andere Dinge.
Wenn die Nacht endet ist der siebente Roman des schwedischen Schriftstellers und promovierten Kriminologen Christoffer Carlsson, der für sein Werk bisher zweimal mit dem Schwedischen Krimipreis ausgezeichnet wurde. Wie in der vierteiligen Romanreihe um den Polizisten Leo Junker, mit der er international bekannt wurde, ist auch der dritte in der südwestschwedischen Provinz Halland spielende Roman Carlssons wesentlich mehr als nur eine Kriminalgeschichte. Zwar gehören Polizistinnen und Polizisten zum Personal, löst der Mord an einem Jugendlichen eine ganze Reihe anderer Ereignisse aus, in deren Verlauf weitere Menschen sterben, und betritt im dritten Buchteil mit Vidar Jörgensson ein den Leserinnen und Lesern bereits bekannter Ermittler den Schauplatz. Doch der Fokus des Buches bleibt auch zwanzig Jahre nach den Ereignissen von 1999 noch auf jener Personengruppe, die die Polizistinnen Pettersson und Bengtsson nach der Ermordung des jungen Mikael Söderström unter die Lupe genommen hatten.
Vidar Jörgensson greift ein
Und das ist auch gut so. Denn was Vidar Jörgensson auf den Plan ruft und ihn sich im Laufe der folgenden Ermittlungen noch einmal genau mit jenen 20 Jahre zurückliegenden Ereignissen beschäftigen lässt, ist ein weiterer Mord. Nach dem Begräbnis eines Dorfbewohners findet man den jüngeren Bruder Mikael Söderströms ebenfalls erschlagen auf einem Feld liegen. Jörgensson ahnt sofort, dass es zwischen den beiden Verbrechen einen Zusammenhang geben muss, und sucht die damals Beteiligten, von denen die meisten in der Gegend geblieben sind, nacheinander auf.
Auch mit der inzwischen als Tischlerin und Möbelrestauratorin arbeitenden Ex-Polizistin Siri Bengtsson versucht er, ins Gespräch zu kommen. Die hatte ihren Job an den Nagel gehängt, als sie bei Ermittlungen, die einen über Nacht aus der Gegend verschwundenen Teenager betrafen, eine schockierende Entdeckung machte. Nun muss sie, weil Jörgensson nicht aufhört, in den alten Wunden zu bohren, ob sie will oder nicht wieder über die Ereignisse rund um die letzten Tage des Jahres 1999 nachdenken. Und auch für den alten, dem Alkohol nicht abgeneigten Pfarrer Isidor Enoksson, der mehr weiß, als er zwanzig Jahre zuvor zugegeben hatte, werden die aktuellen Geschehnisse noch zu einer schweren Gewissensprüfung. Denn Carlssons Figuren werden nicht nur aus dem Reich der Lebenden heimgesucht.
Die Lebenden und die Toten
Christoffer Carlssons Roman bedient sich eines Stils, wie er sich durchaus nicht in jedem Kriminalroman findet. Dass es der Übersetzerin Ulla Ackermann – nach ihrer Übertragung des Vorgängerbandes Was ans Licht kommt – erneut wunderbar gelungen ist, sich in Carlssons poetisch-bilderreiche Sprache einzuarbeiten, soll an dieser Stelle ausdrücklich hervorgehoben werden. Und auch dass Christoffer Carlssons Romane wohl am meisten denen seines Landsmannes Håkan Nesser ähneln, wenn man sie in die Reihe all der in den letzten Jahrzehnten aus Europas Norden gekommenen Spannungsromane stellt, lässt sich wohl nur schwer von der Hand weisen. Denn wie bei dem Erfinder der Kommissare van Veeteren und Barbarotti geht es an den erzählerischen Oberflächen, die einen bei Carlsson begegnen, eher ruhig zu. Umso heftiger sind hingegen die Erschütterungen, die das Innere der Protagonisten aufwühlen. Hier, in dem, was man sich nicht traut, offen zu bekennen, entstehen jene Ängste, Aggressionen und Konflikte, als deren Resultate dann die Verbrechen geschehen, mit denen es Carlssons Ermittler zu tun bekommen.
Titelangaben
Christoffer Carlsson: Wenn die Nacht endet
Aus dem Schwedischen von Ulla Ackermann
Hamburg: Kindler im Rowohlt Verlag 2024
461 Seiten. 24 Euro
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