/

Rückbau

Textfeld | Wolf Senff: Rückbau

Der Leitgedanke der neuen Zeit, sagt Gramner, werde Rückbau sein, die industrielle Zivilisation sei gescheitert, sagte Thimbleman, definitiv, sagte er, Rückbau werde zum Namen der neuen Epoche, er setzte sich aufrecht.

Du warst zu lange im Wasser, entgegnete der Ausguck. Wasserkopf!, spottete er, stand auf, nahm Anlauf und schlug einen Salto. Und überhaupt, rief er: Welche neue Zeit?

Das dritte Jahrtausend, sagt Gramner.

Wie, das dritte Jahrtausend? Von Tag zu Tag wird es schlimmer. Wie kommt Gramner darauf? Er ist Koch, ein geschätzter Koch, sagte der Ausguck, aber einfach zu geschwätzig, sagte er und lief einige Schritte zum Wasser, um Ausschau nach dem Wal zu halten. Gramner, sagte er, weiß selbst nicht, was er redet.

Weiß ich’s? Hör‘ einfach zu.

Wir haben zum Glück ja sonst nichts zu tun. Es wird zwei Tage dauern, daß die Verletzungen ausgeheilt sind und gesunde Besatzung für zwei Schaluppen bereitsteht. Erzähl! Was sagt er? Rückbau? Was soll das sein?

Der Rückbau von drei Jahrhunderten technologischer Revolutionen, wenn du es unbedingt wissen willst, Ausguck.

Sagt mir überhaupt nichts, mein Freund, null. Wie stellt er sich das vor? Der Ausguck stampfte mit den Füßen und spritzte mit Wasser um sich. Siehst du ihn?, fragte er. Dort? Die Fluke? Hier ist der Teufelsfisch zahlreich unterwegs. Und was?, fragte der Ausguck: Rückbau? Wollen sie die Dampfschiffahrt ausmustern?

Exakt, rief Thimbleman überrascht: Du weißt es ja! Sie werden motorgetriebene Schiffe mit Zugdrachen ausstatten und wieder Segelschiffe konstruieren, und unsere Zeit, das werden die Jahre gewesen sein, in denen das Verhängnis seinen Anfang nahm. Denk an den Goldrausch, Ausguck, an die Goldgräber in der Stadt. Diese Gier, sagt Gramner, werde um sich greifen, der Mensch gerate außer Rand und Band, er sei im Rausch, besinnungslos.

Er lasse keine Grenze gelten, sagte der Ausguck, und kenne weder Maß noch Ziel, lachte laut und ging in den Handstand, er war spitze in diesen Übungen, stand stocksteif auf nur einer Hand und schwankte nicht einen Millimeter.

Wer brachte dir das bei, Ausguck?

Ich kann es eben. Er stellte sich wieder auf die Füße und lachte. Auf diesem Flecken Erde ließe sich leben, findest du nicht?

Du übertreibst, Ausguck. Sieh den Teufelsfisch. Der hält sich eine kurze Saison hier auf, dann tritt er die weite Wanderung zurück ins Bering-Meer an, wo er satt Nahrung findet.

Nichts ist vollkommen?

So wird es sein. Allein der Mensch werde geradewegs ins Elend steuern, ins vollkommene, nackte Elend, sagt Gramner, und der Kater, der sich nach dem jahrhundertelangen Rausch ausbreite, werde vernichtend sein, selbst der Planet stürze sich in Aufruhr. Deshalb, sagt Gramner, beginne der Rückbau besser heute als morgen, die Zeit dränge, und wie wolle der Mensch, sagt Gramner, sich von den digitalisierten Abläufen befreien, in die er sich verstricke und die, wenngleich sie mit Jubel begrüßt wurden, nach wenigen Jahren nur Angst und Schrecken verbreiten.

Du malst in schwärzesten Farben, mein Freund.

Wie er den Planeten ausbeute, so beute sich der Mensch selbst aus, sagt Gramner. Du weißt nicht, was Ausbeuten heißt? Er plündert, er stiehlt die Lebensgrundlagen, die Energie, die Kraft, und zwar die des Planeten wie seine eigenen.

Sein Erscheinungsbild sei glatt, gepflegt, gediegen, sagt Gramner, daß man es nicht glauben mag, doch er sei innerlich zerrüttet und spiegele den Zustand des Planeten wider. Er brenne aus wie die Stadt Frisco, in der alljährlich das Feuer ganze Straßenzüge in Schutt und Asche lege und, erzählt Gramner, wie Kalifornien, das nach der Jahrtausendwende von verheerenden Bränden heimgesucht werde, das Land werde in Flammen stehen.

Der Ausguck ging einige Meter am Strand entlang und schlug einen Salto, noch einen und noch einen.

Spürst du die Lebenskraft, mein Freund?

Ich rede nicht von dir, Ausguck.

Du redest von Gramner und seiner Zukunft. Kümmert uns das? Von Rückbau wolltest du reden.

Das ist dann die Zukunft, Ausguck. Im Grunde, sagt Gramner, müsse die Zivilisation der Industriegesellschaft sorgfältig und mit allen verfügbaren Mitteln rückgebaut werden, Stück für Stück, zum Beispiel müsse auf ein Material wie Plastik, sagt er, das ebenfalls mit großem Gewese als ein Fortschritt begrüßt worden sei, komplett verzichtet werden, es könne kaum recycelt werden und sei als feinkörniger Abfall in den Weltmeeren verbreitet, dort fließe es in die Nahrungskette ein und reduziere darüber hinaus die Fischbestände.

Das klingt wie ein Schauermärchen, Thimbleman, Gruselgeschichten, der Koch ist unverbesserlich.

Und er erinnert an die Kernenergie, verstehst du, wissenschaftlich gefördert, mit dem gleichen Gewese präsentiert und mit ebenfalls unabsehbaren tödlichen Folgen, in großer Zahl seien Atommeiler aufgestellt, doch wer werde deren Sicherheit gewährleisten und wer könne deren Abriß finanzieren, die Kosten allein für den Rückbau Fukushimas werden auf einhundertachtzig Milliarden Euro geschätzt.

Entspann dich, mein Lieber, was geht es uns an, die Zukunft ist fern, wer kennt denn Fukushima, sei mal ganz locker, du steigerst dich in etwas hinein, unser Koch ist ein Kauz, er ist eine empfindliche Haut, ihm raucht der Kopf über all seinen schwarzen Gedanken.

Sag ihm das einmal selbst, Ausguck.

Ich werde mich hüten.

Du hast keine Chance.

Kann schon sein.

Die Fundamente des Industriezeitalters rückzubauen, sagte Thimbleman, das sei schon heute überfällig, um menschliches Leben auch im dritten Jahrtausend zu erhalten. ›Wachstum‹ und ›Fortschritt‹, sagte er, führen in eine Sackgasse.

Der Ausguck wandte sich ab, rannte einige hundert Meter durch das hoch aufspritzende Wasser, kehrte entspannt und langsam zurück und suchte die Lagune nach Walen ab.

| WOLF SENFF

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Das Selfie entert das Theater

Nächster Artikel

Was am Ende zählt

Weitere Artikel der Kategorie »Kurzprosa«

Erzähler und Zuhörer

Kurzprosa | Uwe Timm: Montaignes Turm »Ich bin überzeugt, dass wir in unserer Seele einen besonderen Teil haben, der einem anderen vorbehalten ist. Dort sehen wir die Idee unserer anderen Hälfte, wir suchen nach dem Vollkommenen im anderen«, erklärte der männliche Protagonist Eschenbach in Uwe Timms letztem Roman Vogelweide (2013). Mit diesem äußerst anspielungsreichen Buch hatte Timm nicht nur einmal mehr seine immense Vielseitigkeit unter Beweis gestellt, sondern den Gipfel seines bisherigen künstlerischen Schaffens erklommen. Jetzt ist sein Essayband Montaignes Turm zu seinem 75. Geburtstag am 30. März erschienen. Von PETER MOHR

Lauter letzte Bücher

Roman | Peter Härtling: Tage mit Echo Wieder einmal thematisiert Peter Härtling – ein Meister des biographischen Erzählens – das Getriebenwerden der künstlerischen Existenz. Tage mit Echo hinterlassen einen melancholischen und dennoch tröstlichen Nachhall. Von INGEBORG JAISER

Der Mensch erscheint im Holozän

Kurzprosa | Jörg-Uwe Albig: Eine Liebe in der Steppe Eine höchst außergewöhnliche, reichlich merkwürdige Liebesgeschichte präsentiert uns Jörg-Uwe Albig in seiner neuen Novelle ›Eine Liebe in der Steppe‹. Schauplatz ist ein öder Landstrich, der über die Jahrmillionen durch einen Kreislauf von Meer und Wäldern, Aufbau und Zerfall geprägt wurde. Was gilt ein Mensch schon angesichts von kambrischen Wattlandschaften und karbonischen Urwäldern? Von INGEBORG JAISER

Erst schalten, dann walten!

Literaturkalender 2016 Was wird wohl 2016 für uns bereithalten: glückliche Augenblicke und köstliche Momente, ereignisreiche Wochen und wechselnde Jahreszeiten. Vielleicht sogar lange Ferien? Auf jeden Fall einen geschenkten Schalttag obendrauf. Kalender für das nächste Jahr laden jetzt schon zur Vorfreude und zum Pläneschmieden ein – am besten häppchenweise garniert mit Literatur. Von INGEBORG JAISER

Anthropozän

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Anthropozän

Homo sapiens. Wer ließ sich das einfallen.

Ein Wissenschaftler, Annika.

Klar. Da kriegst du das heulende Elend.

Sie sind außerstande, sich wohnlich einzurichten, sie richten das Leben auf dem Planeten zugrunde. Eine Spezies, unfähig sich in die Natur zu integrieren, und nicht nur das, sondern wo immer sie sich aufhält, zerstört sie, sei es in der Anatomie während der Anfänge der Medizin, sei es die Spaltung des Atoms. Die Lunte ist gezündet, sie brennt, der große Knall ist absehbar.