Bühne | Die Stadt der Blinden: Deutsches Schauspielhaus Hamburg
Die Romanvorlage zeichnet das Szenario einer Seuche, einer gefährlichen plötzlichen Erblindung, die auf Infektion zurückzuführen ist. Für die erblindeten Opfer ist ein separates, umzäuntes Lager eingerichtet, zur Außenwelt besteht Kontaktverbot. Von WOLF SENFF
Das wäre eine faszinierende Ausgangssituation für eine ergreifende Handlung. Doch das vielversprechend zarte Pflänzchen wird in der Inszenierung des Deutschen Schauspielhauses unter der Regie von Kay Voges kurzerhand, konsequent und verblüffend kaltblütig plattgewalzt, man fühlt sich an Reality-TV erinnert, erste Zuschauer verlassen nach einer halben Stunde die Stätte des Grauens und dürfen sich in Rezensionen über die Eskalation in Sex, Blut, Fäkalien informieren.
›Crossover‹
Interessant ist, sich zu fragen, welch diversen Mechanismen hier ihre unangenehme Wirkung entfalten, und es fällt auf Anhieb auf, mit welcher Selbstverständlichkeit mittlerweile die Praxis der Theater, Prosa zu adaptieren, goutiert wird. In diesem Fall geht das daneben, tüchtig daneben.
Die Ursache dafür ist darin zu sehen, daß das Genre des Romans eine Ansprache an den Leser voraussetzt, die sich weniger an dessen Augen als an dessen Phantasie wendet und die nicht eins zu eins in bildliche Medien übertragbar ist, die Ausgangslage sträubt in diesem Fall heftig sich gegen den Versuch einer visuellen Vereinnahmung. Das verbreitete, gern genutzte ›Crossover‹ von Genres stößt hart an seine eigenen Grenzen.
Niveau von Selfies
Die Inszenierung beschreitet ihren Irrweg mit vernichtender Konsequenz. Die visuelle Wahrnehmung wird durch parallele Videobegleitung laufend verdoppelt, das verfügbare technische Instrumentarium wird ungehemmt eingesetzt, ohne dass eine intendierte Sinnhaftigkeit nachvollziehbar wäre, Reizüberflutung als Selbstzweck, die Inszenierung wird übergriffig, es gelingt nicht, Romanhandlung ernsthaft und glaubwürdig umzusetzen.
Auf der Bühne spielt sich massiv inszenierte Bildlichkeit ab, doch die Emotionen, so angestrengt sie dargeboten werden, erreichen das Publikum nicht, Dialoge kippen über zur Comedy, das Geschehen bleibt oberflächlich. Wir erleben in dieser Inszenierung eine Qualität von Kultur, die sich auf Selfie-Niveau einpendelt.
| WOLF SENFF
| Fotos © MARCEL URLAUB
Titelangaben
Die Stadt der Blinden, nach dem Roman von Jose Saramago
Deutsches Schauspielhaus Hamburg
Regie: Kay Voges
Premiere am 16. März 2019
Dauer: 2 Stunden 15 Minuten, keine Pause