//

Ohne ihn

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Ohne ihn

Mittendrin, sagte Farb, wir stecken mittendrin.

Keine Chance, sagte Wette.

Annika schenkte Tee nach, Yin Zhen, sie hatten wie immer das Service mit dem Drachendekor aufgedeckt, rostrot, das Tilman aus Beijing mitgebracht hatte, wo er einen Halbmarathon auf der Großen Mauer gelaufen war, diese Wettbewerbe, fand er, seien völkerverbindend, zumal in Zeiten wie diesen, ich komme darauf zurück.

Farb tat sich eine Pflaumenschnitte auf.

Tilman reichte ihm einen Löffel Schlagsahne.

Der Planet balanciere sich neu.

Wette nickte.

Er korrigiere die räuberischen Eingriffe des Menschen, sagte Tilman.

Farb lachte. Das Anthropozän, spottete er.

Größenwahn, sagte Wette, ohne Maß und Ziel, und nein, sagte er, die Abläufe hätten sich in Bewegung gesetzt, nach unseren Begriffen vielleicht reichlich schwerfällig, der Mensch habe da ein reduziertes Zeitempfinden, aber sie seien nicht aufzuhalten, sie legten zu, ihr Tempo wachse exponentiell, der Planet sei in Aufruhr.

Politik neige dazu, das Thema zu ignorieren, sagte Tilman, man müsse, neudeutsch, proaktiv handeln, also nicht lediglich aktiv, sondern proaktiv, die Sprache werde aufgeblasen, dramatisierte Realität, Hektik! Streß! Hagel und Granaten!, und sie offenbare gleichzeitig die Tatenlosigkeit von Politik, das Geschehen werde, er lachte, proaktiv ignoriert.

Interessant, sagte Wette.

Stets auf den zweiten, den prüfenden Blick, sagte Tilman, denn die Sprache bilde den allgemeinen Zustand ab, einerseits die Aufgeregtheit, den ständigen Drang nach Innovation, und andererseits die Symptome des Zerfalls, den Verlust, die brüchigen Fundamente.

Farb aß ein Stück von seiner Pflaumenschnitte.

Tilman griff zu einem Marmorkeks, erleichtert daß es sie wieder gab, sie waren wochenlang nicht im Handel verfügbar gewesen, vielleicht weil der Amerikaner überraschend Zölle erhoben hatte, er gefalle sich darin, Zölle zu erheben, und womöglich gäbe es demnächst sogar wieder Vanillekipferl, nein, sie seien nicht vergangenes Jahrhundert, keineswegs.

Annika blätterte in ihrem Reisemagazin, nicht nur daß sie nicht wisse, wohin in den Urlaub zu fahren, sondern ob sie überhaupt verreisen solle, man lebe in lebensbedrohlichen Zeiten.

Der Planet, sagte Wette, finde kein Format, das imstande sei, den selbsternannten Homo sapiens zu integrieren, der Mensch sei eine ausgefallene Existenz, seine Aktivitäten würden jene in etlichen Millionen Jahren geschaffene Balance zerstören, die ihm geordnet zu leben erst ermöglicht habe.

Nein, sagte Farb, man könne nicht davon reden, daß der Planet sich gegen den Menschen zur Wehr setze, nicht wirklich, sagte er, es sei der Mensch, der an sich selbst scheitere und sich an das Maschinenwesen ausgeliefert habe.

Der Homo sapiens, spottete Wette.

Ein monströser Kindergarten. Wette lachte.

Der Planet, sagte Tilman, wahre ein harmonisches Gleichgewicht im Konzert der Galaxien, nichts anderes, er verlagere Akzente, diverse Areale regten sich, in denen sich über Jahrtausende nichts bewegt habe, eingefahrene Zustände brächen auf, vielleicht daß er schläfrig gewesen sei, sich zurückgezogen habe und eine Zeit der Muße genossen, nun aber dränge es ihn zur Tat, Hitze breite sich aus, Orkane, treibende Fluten, der Homo sapiens sei ihm zum Alptraum geworden, beispiellos, der die unersetzlichen, kostbaren Schätze, die über Millionen von Jahren herangewachsen waren, bedenkenlos ausgebeutet habe, so müsse man es sehen, sagte Tilman, das Konzert der Galaxien könne auf die Kräfte dieses Planeten nicht verzichten.

Mittendrin, wiederholte Farb, wir stecken mittendrin.

Keine Chance, sagte Wette.

Die Würfel seien längst gefallen, sagte Farb, wir seien lediglich Publikum in einem Schauspiel von atemberaubender Schönheit, ein Planet organisiere sich neu, und für den Menschen, verletzlich, instabil, bleibe kein Platz, nichts, null inmitten der neuen Zusammenhänge, in denen die urwüchsige Kraft des Planeten sich rigoros Geltung verschaffe: die Erde bebt, Flammenwände treiben über Land, Wasser überfluten die Erde, Orkane und grandiose Unwetter toben reinigend über den Planeten.

| WOLF SENFF

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Eine Insel für immer

Nächster Artikel

Erinnerungen lebendig halten

Weitere Artikel der Kategorie »Kurzprosa«

Nach oben

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Nach oben

Die Stufen waren schmal für Schuhgröße 45, eine andere Kultur, die Menschen müssen klein gewesen sein, der Aufstieg war mühsam, Tilman war nicht schwindelfrei.

Eine gemischte Biografie

Menschen | Monika Maron zum 75. Geburtstag Zum 75. Geburtstag von Monika Maron (am 3. Juni) erscheint der Band Krähengekrächz. PETER MOHR gratuliert der Schriftstellerin.

Moderne

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Moderne

Hungerstreik?

Sie verweigern das Essen.

Wo verweigern sie das Essen?

Drüben im alten Europa.

Auf unserer ›Boston‹ möchte ich mich auch manchmal weigern zu essen.

Du redest Unsinn, Bildoon, tadelte der Ausguck.

Popeye und Zuchtperlen

Kalender | Niklaus Gelpke (Hrsg.): mare Kulturkalender 2021
So viel hat mit dem Meer zu tun, Herman Melville meinte sogar einmal, dass es noch nie einen großen Mann gegeben hätte, der sein Leben lang auf dem Festland gelebt hätte. So weit muss man nicht unbedingt folgen, aber das Meer hat seine Faszination nie verloren. Vom Meer und der Kultur, die zum Meer gehört, erzählt auch der Kulturkalender aus dem mare Verlag. Von GEORG PATZER

Karttinger 6

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Karttinger 6

Eine Brücke!, rief der Geheimrat.

Zwar sei es hier trocken, sagte der Moderator, doch gelegentlich stoße man auf Wasser, wo man es gar nicht vermute, es sei denn, der Reiter sei ortskundig.

›Brücke am Rio Lobo‹, warf Nahstoll ein, neunzehnsiebzig, Howard Hawks, der Rio Lobo knietief und fünfzehn Fuß breit, grünes Gebüsch wächst an den Ufern und spendet Schatten, sanft und verlockend spielt das fließende Wasser zum showdown auf.

Der Geheimrat keuchte angestrengt