Menschen | Literaturkalender 2018
Gleich nach den Sommerferien tauchen sie auf: die ersten Lebkuchen im Supermarkt, in den Buchhandlungen die Kalender für das nächste Jahr. Zu den lukullischen Vorboten folgen literarische. Wer sich noch nicht durch seinen Lieblingskalender geblättert hat, findet hier zur Einstimmung einen Ausblick auf alte Bekannte und neue Entdeckungen. Von INGEBORG JAISER
Himmelswonne, Himmelssonne
Zu den ausgewiesenen Klassikern zählt der Arche Literatur Kalender, der seit über 30 Jahren auf immer wieder überraschende und anregende Weise von Elisabeth Raabe und Regina Vitali zusammengestellt wird – zu wechselnden Themen und Leitmotiven. So verheißt das Jahresmotto 2018 mit Ruhe und Bewegung ein schwindelerregendes Panoptikum von Wanderungen und Radtouren, Schiffsüberfahrten und Überlandflügen, Zwangspausen und Bettruhe, Freigang und Traumreisen. Alles erlebt, beschrieben, notiert von ausgewählten Schriftstellern, die in der jeweiligen Woche entweder geboren oder gestorben sind. Zu den Zitaten und Textstellen (die allesamt Lust aufs Weiterlesen und Wiederentdecken machen) gesellen sich bislang selten gezeigte Fotografien und Ansichten.
Wir machen Bekanntschaft mit einem smarten Vladimir Nabokov (in einem Arm zwei Tennisschläger, im anderen seine gut aussehende Verlobte), der Sport gleichermaßen exzellent betreiben wie beschreiben kann. Wir glauben Ilse Aichinger aufs Wort, wenn sie unterm Regenschirm hervorlugend gesteht: »Ich bin nicht für Abwechslung, ich reise nicht gern.« Und wir wundern uns, dass ein erstaunlich aufgeräumter Alfred Kerr eine stürmische Atlantiküberfahrt stoisch übersteht: »Hinter Cherbourg schnob der Sturm… Das Sofa reitet durch mein Kabinenzimmer bis ans Bett. Der umgestürzte Tisch trabt, galoppt. Ich bin bei alledem nie seekrank… Am nächsten Morgen fährt man in kompletter Himmelswonne, Himmelssonne still wie auf dem Mittelmeer.«
Nach dem Törn ist vor dem Törn
Über eine ähnlich stabile Konstitution verfügt Christian Irrgang, der offen gesteht: »Manche Menschen werden seekrank. Ich werde landkrank. Wenn ich längere Zeit nicht auf dem Wasser war, werde ich unruhig… Wer sich einmal mit dem Virus infiziert hat, ist geliefert. Aufenthalte an Land lassen sich zwar ab und zu nicht vermeiden, aber sinnvoll sind sie nur, wenn sie dazu dienen, den nächsten Törn vorzubereiten.«
Wer von derselben ansteckenden Leidenschaft befallen ist, wird vom Literarischen Segelkalender begeistert sein – einer einzigartigen Kalender-Premiere des auf maritime Themen spezialisierten Verlages Delius Klasing. Woche für Woche kann man hier eintauchen in einen tollkühnen Strudel von Wind und Wetter, von Ankerbuchten und Atlantikfieber, zwischen Tau und Tag. Reizvolle Fotografien schüren die Skipper-Sehnsucht, begleitet von literarischen Zitaten des Abenteurers Arved Fuchs, der Weltumseglerin Astrid Erdmann und zahlreichen weiteren Autoren des Verlages. Auf zu neuen Ufern!
Kein Bier vor vier
Auf Special-Interest-Themen hat sich auch der fränkische Verlag ars vivendi verlegt und mit seinen ästhetischen Kalendern schon etliche Auszeichnungen erlangt. Sein Literarischer Bierkalender kombiniert auf 53 Blättern gerstensaftselige Fotografien mit literarischen Fundstücken von Wilhelm Busch über Jörg Fauser bis Heinz Strunks Der Goldene Handschuh.
Interessante Quizfragen, süffige Lebensweisheiten und ungewöhnliche Rezepte (z.B. für eine Bier-Zabaglione) gibt´s noch obendrauf. Und manche Aphorismen kann man glatt als Trinkspruch adaptieren, so wie Benjamin Franklins Erkenntnis: »Im Wein ist die Weisheit, im Bier ist die Freiheit – und im Wasser sind Bakterien.«
Man dreht und wendet Raum und Zeit
Freudiges Wiedersehen mit einem Klassiker – und einer bemerkenswerten Verlagsgeschichte! Nachdem Erich Kästners Bücher von den Nationalsozialisten verbrannt wurden und der verfemte Autor ein Publikationsverbot erhielt, gründete sein mutiger Verleger Kurt Leo Maschler 1935 in der Schweiz den Atrium Verlag (der übrigens noch heute alle Rechte auf Kästners Gesamtwerk besitzt). Mit der lapidaren Begründung: »Da ich Kästner nicht dazu bewegen konnte zu emigrieren, emigrierte ich seine Bücher.«
Im Atrium Verlag erscheint seit einigen Jahren auch der Erich Kästner Kalender – auf hochwertigem Naturpapier, mit feuerwehrroter Spiralbindung und (nicht nur optisch) hohem Wiedererkennungswert, dank den Illustrationen von Walter Trier. Wenn auf dem Deckblatt Pünktchen und Anton über die signalgelben Straßen Berlins spazieren, wird man automatisch von guter Laune beflügelt. Immer noch erstaunlich zeitgemäße Zitate mit oft verstecktem Humor begleiten uns auf den folgenden 12 Blättern durchs Jahr. Wer nur zögerlich in die Zukunft blickt, wird spätestens mit dem lakonischen Dezember-Spruch ermuntert:
Wird´s besser? Wird´s schlimmer?
fragt man alljährlich.
Seien wir ehrlich:
Leben ist immer
lebensgefährlich.
Augenstern und Blütenspiel
Schon im verrückten siebten Jahr erscheint nun der Arche Kinder Kalender mit internationaler Lyrik und berauschend bunten Illustrationen – eine quirlige Reise durch die Jahreszeiten und durch die ganze Welt. Hier gibt es viel zu lachen und staunen, zu rezitieren und reimen. Von der lettischen Dackel-Polonaise (im Februar) über ein brasilianisches Blütenspiel (im März) hin zum ägyptischen Augenstern (im Juni) und tschechischen Eispirouetten (im Dezember).
Herausgegeben wird dieser einzigartige Kalender von der Internationalen Jugendbibliothek in München, die jährlich ihre Schätze durchforstet und 52 ganz besondere Kindergedichte auswählt. Keines davon lag bislang in deutscher Übersetzung vor. So stellt jedes Blatt ein ganz individuell arrangiertes Novum dar: das Gedicht in Originalsprache, samt deutscher Übertragung und liebevoller Illustration. Welch Wunder, wie hier Wortwitz und Klang, Reim und Rhythmus durchgereicht oder neu umgesetzt werden. Ein die Fantasie anregender Augenschmaus und Sprachschatz (im wahrsten Sinne), an dem Kinder und Erwachsene gleichermaßen Freude finden werden.
Sommerbilder und Winterwälder
Apropos Lyrik. Über viele Jahre kam er in wechselnden Grünschattierungen oder einem satten Aubergine daher, um uns dieses Jahr mit einem verhaltenen Blauton zu überraschen: der Klöpfer & Meyer Gedichtekalender. Längst hat er Sammlerstatus erlangt, unter allen Freunden der Poesie und der Rückbesinnung aufs Wesentliche. Auf 24 qualitätsvollen Blättern (ja, man hat tatsächlich einen halben Monat Zeit, um jedes Gedicht zu genießen) spiegelt sich der lyrische Kreislauf der Jahreszeiten und der Natur wieder. Sehr reduziert, mit dem Blick aufs Essentielle, ganz ohne Illustrationen oder Fotografien.
Und doch verzaubert die Sprache: wir treffen auf Sommerbilder und Winterwälder, auf Frühlingslieder und leise Herbsttage. Mal von Klassikern wie Mörike, Rilke oder Brecht verfasst, mal von modernen Autoren aus dem Programm des Verlages, wie Walle Sayer, Tina Stroheker oder Eva Christina Zeller. Mal altbekannt, mal bislang unveröffentlicht. Alle ausgewählt und in eigener Handschrift wiedergegeben vom Verlagsinhaber Hubert Klöpfer. Als Bonustrack obendrauf: sämtliche Gedichte in Druckschrift auf einer Extraseite.
Noch ist die Zeit der blauen Bäume
Von den Schönheiten und Mysterien der Wälder ließen sich ganze Generationen von Dichtern und Denkern inspirieren: Romantiker wie Ludwig Tieck, Philosophen wie Khalil Gibran (»Die Blumen des Frühlings sind die Träume des Winters«), Naturburschen wie Ralph Waldo Emerson (»Man hört dort Laute der Süße und des Schreckens, wie man sie in einer Bibliothek niemals antrifft«), Lyriker wie Rose Ausländer.
Ein ganzes Bouquet literarischer Fundstücke und Textauszüge hat der Harenberg-Verlag in seinem Wochenkalender Im deutschen Wald stimmungsvoll arrangiert, harmonisch und bildschön illustriert, vor farblich abgesetztem Kalendarium. Das passende Geschenk für alle belesenen Naturliebhaber und Waldläufer.
Was in keinem Kursbuch steht
»Zu reisen verlangt die Bereitschaft, sich einem Risiko auszusetzen« warnt Stephan Thome gleich auf dem ersten Kalenderblatt, unter einem wuseligen Foto vom Stierlauf in Pamplona. Weit weniger gefährlich gestaltet sich dagegen das Schmökern durch den Literarischen Reisekalender des Verlages Schöffling. Woche für Woche machen wir die Bekanntschaft mit fernen, sehnsuchtsumwobenen Orten, Ländern, Kontinenten. Vorgestellt durch Literaturzitate namhafter Autoren von Paul Auster bis Stefan Zweig, von Alfred Andersch bis Vita Sackville-West. Begleitet von fotografischen Impressionen aus der ganzen Welt. Meist in stimmungsvoller Komposition, zuweilen witzig arrangiert.
Albert Camus denkt bei Prag an den »Geruch von Essiggurken«, Thomas Bernhard wettert über die Mosel (»In Trier ist die Intelligenz nicht zuhause«) und Heinz Strunk verkündet unter der Fotografie von gedrängt sitzenden Fahrgästen auf dem Dach der transandischen Eisenbahn: »Ich könnte die Welt bereisen, habe aber kein Verlangen danach.« Ein heilsamer Wegbegleiter für alle Fernwehkranke und Armchair-Traveller!
In bester Tradition
Wir schließen den Reigen mit einem der sprachmächtigsten und informationsträchtigsten Kalender dieser Vorstellungsrunde. Zugleich kann der Aufbau Literaturkalender auf die längste Wirkungsgeschichte zurückblicken: seit 51 Jahren hat er Bestand! Grundstock ist ein Fundus von rund 5.000 Geburts- und Sterbedaten internationaler Autoren aller Zeiten und Länder, von A wie Douglas Adams bis Z wie Marina Zwetajewa. Ein großer Mitarbeiterstab unter der Herausgeberschaft von Amelie Thoma und Catrin Polojachtof sorgt dafür, dass jede Woche ein anderer Schriftsteller vorgestellt wird. In Textauszügen, Romanpassagen, Gedichtzeilen. Mit (oft erstaunlichen) biographischen Hinweisen und wenig bekannten Fotografien oder Zeichnungen aus ungewöhnlicher Sicht. Ein Kalender zum Wiederentdecken und Nachschlagen, Staunen und Sinnieren.
Zu meinen persönlichen Favoriten zählt ein Zitat aus einem der letzten Bücher des krebskranken Henning Mankell: »Selten vermögen die Menschen ihre Neugier oder ihr Interesse auf mehr als die nächsten Tage, Monate oder Jahre zu richten. Sie denken lieber an die nächste Ziehung der Lottozahlen…“ Erhören wir die Mahnung und blicken interessiert ins neue Jahr – mit Kalendern als Begleiter!
Kalenderangaben
Arche Literatur Kalender 2018: Ruhe & Bewegung
Zürich, Hamburg: Arche Kalender Verlag 2017
22.- Euro
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Der literarische Segelkalender 2018
Bielefeld: Delius Klasing 2017
19,90 Euro
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Literarischer Bier-Kalender 2018
Cadolzburg: ars vivendi 2017
22.- Euro
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Erich Kästner Kalender 2018
Zürich, Hamburg: Atrium Verlag 2017
12,99 Euro
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Arche Kinder Kalender 2018
Zürich, Hamburg: Arche Kalender Verlag 2017
20.- Euro
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Klöpfer & Meyer Gedichtekalender 2018
Tübingen: Klöpfer & Meyer 2017
25.- Euro
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Im deutschen Wald: Literaturkalender 2018
Unterhaching: Harenberg 2017
19,99 Euro
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Der literarische Reisekalender 2018
Frankfurt am Main: Schöffling & Co. 2017
22,95 Euro
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Aufbau Literaturkalender 2018
Berlin: Aufbau Verlag 2017
22.- Euro
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