//

Der erste moderne deutsche Schriftsteller

Sachbuch | Jan Philipp Reemtsma: Christoph Martin Wieland

Folgt man seinem Biografen Jan Philipp Reemtsma, dann hat er die deutsche Literatur mitbegründet und wie kaum ein Zweiter zur Schönheit ihrer Sprache beigetragen. Als Herzogin Anna Amalia einen Prinzenerzieher für ihren Sohn Carl August suchte, fiel ihre Wahl auf den damals populärsten Schriftsteller Deutschlands. Vor 250 Jahren zog der Dichter, Übersetzer, Aufklärer und politische Journalist Christoph Martin Wieland nach Weimar. Hier gründete er unter anderem die Zeitschrift ›Der Teutsche Merkur‹– und brachte die Stadt an der Ilm noch vor der Ankunft von Johann Wolfgang von Goethe auf die kulturelle Landkarte Deutschlands. Von DIETER KALTWASSER

Ein Porträt-Gemälde von Ch. Wieland.Durch seine jahrzehntelange Beschäftigung mit Wieland ist Reemtsma auch Mitherausgeber der historisch-kritischen Ausgabe von Wielands Werken, der sog. Oßmannstedter Ausgabe. Der 1952 in Bonn geborene Jan Philipp Reemtsma ist Professor für Neuere Deutsche Literatur an der Universität Hamburg und wurde u.a. mit dem Lessing-Preis und dem Moses-Mendelssohn-Preis ausgezeichnet. Sein Buch ›Christoph Martin Wieland – Die Erfindung der modernen deutschen Literatur‹ war nominiert für den Preis der Leipziger Buchmesse 2023 in der Kategorie Sachbuch/Essayistik.

Der Autor schreibt zu Beginn seiner Werkbiografie, dass »Wieland ein unaufgeregtes Leben geführt habe; »er wurde am 5. September 1733 in Oberholzheim bei Biberach geboren, er starb am 20. Januar 1813 in Weimar.« Die wichtigsten Lebensstationen: Nach der Kindheit und Jugend in Biberach, Zürich und Bern, wo er als Hauslehrer tätig war, dann wieder Biberach, wo er als Kanzleiverwalter arbeitete. Danach wurde er Professor für Philosophie in Erfurt, »von wo er nach Weimar gerufen wurde, um den künftigen Herzog Carl August auf seine Regierung vorzubereiten.« Er war sozusagen in Rufweite. Dort lebte er mit einer Unterbrechung von wenigen Jahren, als er auf dem von ihm erworbenen Landgut in Oßmannstedt wohnte, bis zu seinem Tod. Eine unspektakuläre Biographie, wenn man sie mit einigen Lebensläufen der Dichter des »Sturm und Drang« vergleicht, auch keine Kavalierstouren nach Italien oder Paris, erfahren wir von seinem Biografen.

In Weimar zeigte sich Wieland auch als Experimentator. Zusammen mit dem Schweizer Komponisten Anton Schweizer entwarf er die deutschsprachige Oper »Alceste«, die nicht nur in Weimar ein Erfolg war, sondern 20 Jahre lang auf deutschen Bühnen aufgeführt wurde. Für den Autor wurde Wieland in den 79 Jahren »seines Lebens zum bekanntesten und bedeutendsten deutschen Schriftsteller, mit ihm begann, was das 19. Jahrhundert die ›Weimarer Klassik‹ nennen sollte. Und gegen Ende seines Lebens sah er, wie diese einzigartige Bedeutung wieder vergessen wurde.«

Dieses »undramatische« Leben des Schriftstellers ist für Reemtsma ein Grund mehr, dass nur eine »Werkbiographie« wirklich lohnend sein kann. Mit ihr allein könne man Wieland gerecht werden. Und so gelingt es diesem Buch, neue erhellende Zugänge zum Werk des Schriftstellers zu eröffnen, seien dies nun die frühen Schriften wie beispielsweise der Roman ›Geschichte des Agathon‹ oder späte wie der Briefroman ›Aristipp und einige seiner Zeitgenossen‹. Das 1800 bis 1802 erschienene Werk war bereits Thema von Reemtsmas Dissertation. Diese Schriften Wielands thematisieren die Grundlagen europäischer Zivilisation ebenso, wie sie Antworten auf die Fragen geben, wie Menschen die Welt wahrnehmen oder was Aufklärung sein kann.

Der Schriftsteller und Übersetzer Wieland sah sich zudem als Gefährte und Interpret großer Autoren der Weltliteratur. Mit Goethe, Schiller und Herder gehörte er zum Weimarer Viergestirn. Doch seine ökonomischen Erfolge erzielte er vor allem aus seinen Shakespeare-Übersetzungen, nicht aus dem Verkauf eigener Werke, schreibt Jan Philipp Reemtsma in seiner herausragenden Biografie, der ersten grundlegenden Darstellung von Wielands Leben und Werk seit 75 Jahren. Erst durch diese Übersetzungen wurde Shakespeare einer weiten Leserschaft bekannt.

Für Reemtsma zählt Wieland zu den bedeutendsten Autoren der deutschen Literatur und der Aufklärung, und zusammen mit Gotthold Ephraim Lessing zu den »Erfindern« der modernen deutschen Literatur. Mit dieser Bewertung weiß sich der der Autor einig mit dem Schriftsteller Arno Schmidt, vor allem was den Rang von Wielands Roman »Die Geschichte des Agathon« betrifft. In Schmidts Kurzroman ›Aus dem Leben eines Fauns‹ heißt es hierzu: »Keiner hat so tief über Prosaformen nachgedacht, Keiner so kühn damit experimentiert, Keiner so nachdenkliche Muster aufgestellt, wie Christoph Martin Wieland.« Für Schmidt wurde Oßmannstedt zu seinem »Pilgerort«.

Die Affinität Reemtsmas zu Arno Schmidt und zur Arno Schmidt Stiftung manifestiert sich auch in der Zusammenarbeit mit Fanny Esterhazy für diese Werkbiografie. Sie hat vor wenigen Jahren nicht nur die erste umfangreiche Bildbiografie Arno Schmidts herausgegeben, sondern auch das Buch ›Wielandgut Oßmannstedt‹ anlässlich der Eröffnung der neuen sehenswerten Dauerausstellung über den Schriftsteller im September 2022. Esterhazy lebt und arbeitet als freie Lektorin, Übersetzerin und Herausgeberin in Wien.

Diese große Verehrung Schmidts für Wieland ist wohl auch ein Grund, warum Reemtsma sich so intensiv mit dem Werk Wielands auseinandergesetzt hat, mit einem Schriftsteller, dem lange Zeit von der deutschen Literaturwissenschaft nicht die nötige Aufmerksamkeit gewidmet wurde. 1933 konstatierte Walter Benjamin, Wieland werde nicht mehr gelesen. Er war zu dieser Zeit schon lange ein vergessener Dichter, die Literaturgeschichte hatte ihn abgetan. Reemtsma ist es wichtig, sich auch mit dieser Umwertung zu beschäftigen und Wielands Werk »wieder lesen zu lernen.« Man »muss sich für vieles interessieren, wenn man Wieland genießen will«, schreibt der Autor. »Und man sollte sich auf das Abenteuer einlassen zu beobachten, wie durch die Werke dieses einen Autors die deutsche Literatur zu dem wurde, was Wieland selbst ›Weltliteratur‹ nannte. Eine Entwicklung, die er selbst mit Verwunderung dem Besucheraufkommen in Weimar ablas. Auf einmal war für Reisende aus ganz Europa diese kleine Thüringer Stadt der Ort, den der Gebildete besucht haben musste.« Und vor allem, so Reemtsma, müsse man bei der Wieland-Lektüre einen Sinn für eine besondere Rarität haben: die intellektuelle Poesie.

Nach seinem Tod fand Wieland seinem Wunsch entsprechend seine letzte Ruhestätte in einer abgelegenen Partie des Gutsparks an der Seite seiner bereits 1800 verstorbenen Gemahlin Anna Dorothea und von Sophie Brentano, die im gleichen Jahr erst 24-jährig nach schwerer Erkrankung nach ihrem zweiten Besuch in Oßmannstedt verstorben war. Sie hatte 1799 ihre Großmutter Sophie von La Roche, die einstige Jugendfreundin und zeitweilige Verlobte Wielands, zum Besuch des Dichters nach Oßmannstedt begleitet. Das Grabmal, ein dreiseitiger Obelisk aus Sandstein, trägt neben den Lebensdaten der Verstorbenen das von Wieland verfasste Distichon: »Liebe und Freundschaft umschlang die verwandten Seelen im Leben – Und ihr Sterbliches deckt dieser gemeinsame Stein.«

| DIETER KALTWASSER

Titelangaben
Jan Philipp Reemtsma: Christoph Martin Wieland
Die Erfindung der modernen deutschen Literatur
In Zusammenarbeit mit Fanny Esterházy
München: C.H. Beck 2023
704 Seiten, 32 Euro
| Erwerben Sie dieses Buch portofrei bei Osiander

Reinschauen
| Leseprobe

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Der perfekte Reisemoment

Nächster Artikel

Phantasie

Weitere Artikel der Kategorie »Kulturbuch«

Spielarten der Gewalt, Deutungen der Gewalt

Kulturbuch | Der Gewalt ins Auge sehen. Mittelweg 36 – Zeitschrift des Hamburger Instituts für Sozialforschung Gewalt in den verschiedensten Formen scheint uns zu umgeben. Jugendgewalt gegen Gleichaltrige, Polizeikugeln für junge Farbige in den USA, Gewaltkriminalität, rassistische Übergriffe auf Einwanderer, offener Krieg in der Ukraine, in Syrien, im Jemen und wer weiß wo in Afrika, terroristische Anschläge, strukturelle Gewalt (Galtung, H. Marcuse) in zunehmend ungerechter werdenden neoliberalen Gesellschaften. Der neue Themenband ›Der Gewalt ins Auge sehen‹ der ›Zeitschrift des Hamburger Instituts für Sozialforschung‹ (HIS) stellt Facetten des Phänomens vor. Von PETER BLASTENBREI

»Who is who« der vergessenen Dinge

Kulturbuch | Thomas Blubacher: Wie es einst war Der Insel Verlag hat wieder ein Händchen für schöne Dinge bewiesen. Im gewohnt liebevollem Outfit der Insel-Reihe widmet sich Thomas Blubacher in ›Wie es einst war. Schönes und Nützliches aus Großmutters Zeiten‹ den Dingen, die wir nicht mehr benennen können, weil sie für unsere Zeit obsolet geworden sind. So fungiert das Buch auch als Maß zur Feststellung des eigenen Alters. Welche Begriffe sind einem noch geläufig und wie alt ist man dann wirklich? VIOLA STOCKER unterzog sich einem Test.

Der neue Trend im europäischen Serienformat

Kulturbuch | Lea Gamula, Lothar Mikos: Nordic Noir Wer konzentriert schaut, sieht am Horizont so etwas wie grenzüberschreitende europäische Kultur heraufdämmern, kann durchaus sein. ›Nordic Noir‹ beschreibt in Anlehnung an den »Film Noir« der vierziger, fünfziger Jahre eine Tradition skandinavischen Kriminalfilms seit den späten neunziger Jahren, im Vorlauf der Kriminalromane stufen wir Maj Sjöwall und Per Wahlöö als Geburtshelfer ein, deren international erfolgreiche Roman-Reihe der sechziger und siebziger Jahre ebenso erfolgreich verfilmt wurde. Von WOLF SENFF

Dumm, wie dumm

Kulturbuch | Emil Kowalski: Dummheit. Eine Erfolgsgeschichte Die Zeiten sind verwirrend, keine Frage. Man hat sich daran gewöhnt, sich auch mental nicht regulieren zu lassen, Verbote sind uncool, kognitiv ist man voll auf Neoliberal gestylt worden. Hm. Passt es dazu, wenn wir – ironiefrei, wohlgemerkt – von einer Erfolgsgeschichte der Dummheit reden? Das überlegt WOLF SENFF

Wider die Tyrannei des einzigen Blickpunkts

Kulturbuch | Daniel Tammet: Die Poesie der Primzahlen Savants, autistische Menschen mit einer sogenannten Inselbegabung, waren lange Zeit nur Objekt der wissenschaftlichen Begierde. Erst in den 80er Jahren erregten sie die amüsiert-gerührte Neugier von Normalbegabten durch Oliver Sacks‘ »Mann der seine Frau mit einem Hut verwechselte« und Barry Levinsons »Rain Man«. Ihre Tauglichkeit als Popfiguren wurde ab 2005 getestet, als die TV-Serie »Numbers« ein mathematisches Superhirn mit den typischen weißen Flecken auf der sozial-emotionalen Landkarte als sexy (männlich) Rätsellöser für die heile Law-and-Order-Welt rekrutierte. Und seit Stieg Larssons Lisbeth Salander scheint Autismus regelrecht zum Glamourfaktor mutiert: genialisch-unheimlich plus sexy (weiblich)