Comic | Guillaume Sorel: Appartement 23
Ein poetischer, morbid-erotischer Bilderreigen, berührend und schwer greifbar: Guillaume Sorels Comic ›Appartement 23‹ lässt sich auf einen Flirt mit dem Jenseits ein – auf dem engen Raum eines Mietshauses und seiner Bewohner. Von CHRISTIAN NEUBERT
Sie hält ein Buch in Händen, ihr Blick versinkt darin. Eine große Tasse Kaffee steht dampfend auf dem Tisch bereit. Ihre Lektüre ist Rimbaulds ›Ophelia‹, zwischendurch raucht sie gedankenverloren eine Zigarette. Dann lässt sie sich ein Bad ein, der Kater von gegenüber beäugt unbeeindruckt ihre sinnliche Erscheinung durchs Fenster. »Voyeuristischer Kater, tu Dir nur keinen Zwang an«, kommentiert sie seinen ungenierten Blick. Schließlich steigt sie in die Wanne. Um zu sterben. ›Ophelia‹ hallt derweil nach und begleitet ihren Tod.
Emilie heißt die junge Frau, deren letzte Augenblicke den Leser ins ›Appartement 23‹ führen – und die ihn weiter begleitet, als sie bereits tot ist. Fortan bewegt sie sich nämlich, von den anderen Bewohnern des Hauses unerkannt, als geisterhafte Erscheinung durch die Wohnungen und Flure. Sie beobachtet die Mitmieter, den voyeuristischen Kater wähnt sie als Verbündeten an ihrer Seite. Mit ihm kann sie nun nämlich kommunizieren, während die Menschen lediglich ihre Präsenz erahnen können.
Geisterhaft unter Lasterhaften
Bei ihren neugierigen Streifzügen entdeckt sie allerlei Ungeahntes: Einer der Mieter, ein Künstler, hatte wohl zu ihren Lebzeiten ein Auge auf sie geworfen – was ihn nicht davon abhält, sich direkt mit einer anderen Frau zu vergnügen. Außerdem scheint er im Besitz eines magischen Spiegels zu sein, der eine Art Durchgang in parallel existierende Räume gewährt. Dann gibt es da noch einen dickbäuchigen Eremiten, der in der Abgeschiedenheit seiner Wohnung dem Opiumrausch frönt und tagein, tagaus literarische Gestalten aus seiner gewaltigen Bibliothek herbei fantasiert um mit ihnen sexuelle und kulinarische Ausschweifungen zu erleben. Eine verbitterte alte Schachtel mit Hass im Herzen, insbesondere auf Katzen. Und den Geist eines kleinen Mädchens, dessen Gespensterexistenz an den versteckten Raum am Ende des Ganges gebunden ist.
Gespenstisch gut
›Appartement 23‹ ist ein erotisch-morbider Bilderreigen, dunkel und rätselhaft, Mystery im Halbschatten. Als Comic funktioniert das sehr gut. Sorel hält sich zurück mit aufklärenden Informationen. Stattdessen setzt er auf die Expressivität seiner Bilder und die assoziative Wirkung der sich traumhaft verlierenden Handlung. Die Motive der einzelnen Figuren und ihre Konstellationen werden gleichzeitig verwirrt und entflochten, untermalt von einem rätselhaften Zitate-Raten.
Der französische Künstler stellt eingestreuten Auszügen der erwähnten ›Ophelia‹, von Carrolls ›Alice im Wunderland‹ oder von Baudelaires ›Der Blutbrunnen‹ schöne Bildern gegenüber, die der düsteren Atmosphäre eine wunderbare Kulisse bieten. Die fein umrissenen Zeichnungen und die zurückhaltende Aquarellkolorierung sorgen für einen wirklichkeitsnahen Eindruck, dem eine schwer deutbare Tendenz zum Verfall anhaftet, ohne vordergründig bedrohlich zu wirken. Vermutlich muss man dem Spiel mit brüchig-maroden Lebenswelten etwas abgewinnen, um den Band in Gänze genießen zu können. Dann allerdings findet man mit ›Appartement 23‹ einen Comic, in den man sich verliert, obwohl er sich manchmal verschließt. Alle anderen finden einen fantasievollen, handwerklich tadellosen Comic, der allein schon auf graphischer Seite besticht.
Titelangaben
Guillaume Sorel: Appartement 23
Bielefeld: Splitter Verlag 2014
104 Seiten, 19,80 Euro
[…] “Diesseits des Jenseits” – Christian Neubert auf titel-kulturmagazin.net über “Appartement 23″ von Guillaume Sorel (Splitter) […]