Comic | Li Kunwu: Lotusfüße
Lotusfüße beschreiben das fragwürdige Ergebnis der alten chinesischen Tradition, die Füße von Mädchen durch Brechen und Binden auf ein Schönheitsideal hin zu formen. Li Kunwus gleichnamiger Comic spürt dieser Tradition nach – basierend auf der wahren Geschichte seines einstigen Kindermädchens. Von CHRISTIAN NEUBERT
Es sollte ein schöner Tag werden für die kleine Chunxiu, vielleicht gar einer der schönsten ihres Lebens: Indem ihr die Füße gebunden werden sollten, war ihr, die sie doch aus einfachen Verhältnissen stammte, der soziale Aufstieg gesichert. Die Tradition verlangte es, und überhaupt war sie im besten Alter.
Bei ihrer Schwester Arong wurde der Eingriff recht spät unternommen, erst, als sie zehn war. Doch mit sechs, sieben Jahren, so heißt es, da ist die Haut noch elastisch und die Gelenke sind noch weich. Ideal, um den Mädchen die Zehen zu brechen, unter die Fußsohlen zu biegen, zu verschnüren und zu sogenannten Lotusfüßen zu formen. Klar war die Prozedur sehr schmerzhaft, natürlich schränkte sie das ihr Leben lang stark ein. Es war aber eine Investition in die Zukunft: »Ist man arm, kann man sich die Füße nicht binden lassen. Hat man aber keine gebundenen Füße, bleibt man arm.«
Das Leben hatte aber anderes vor mit Chunxiu. Zehn Jahre später war sie zwar eine begehrte junge Frau, die umworben und beschenkt wurde. Sogar eine dieser kleinen Uhren mit Läutwerk aus Deutschland hatte sie von einem ihrer Verehrer bekommen. Im Zuge der ersten Revolution wurde China jedoch zur Republik – und Lotusfüße waren plötzlich verpönt. Mit ihrem Kindheitsfreund, dem ebenfalls aus armen Verhältnissen stammenden Magen, floh sie zurück in ihre ländliche Heimat – dorthin, wo die meisten Familien auf Lotusfüße für ihre Töchter verzichten mussten. Sie konnten sie nicht bezahlen und brauchten zudem Kinder mit intakten Füßen für die Feldarbeit. Dass sie dort aufgrund ihrer Füße einerseits wie aussätzig, andererseits sehr begehrenswert war, erfuhr sie bald sehr schmerzvoll. Die Beziehung zu Magen zerbrach daraufhin, und sie begann, das einsame Leben einer Bäuerin zu führen – mit Füßen, die sie einst von den Feldern wegbringen sollten und nur schwerlich auf diesen zu gebrauchen sind.
25 Jahre später, nach der Kulturrevolution, waren Lotusfüße endgültig geächtet. Maos politischer Kurs brauchte Arbeitskraft, auch die von Frauen. Das war die Zeit, in der Li Kunwu Chunxiu kennenlernte: 1959 war der heutige Comic-Künstler vier Jahre alt. Seine Eltern stellten Chunxiu als Kinderfrau für ihn und seine Schwester ein. Er erinnert sich gerne zurück an die Zeit, in der sie seine »soziale Erziehung« übernahm, wie er im Vorwort schreibt. Doch auch dieses kleine Glück wurde Chunxiu genommen: Indem sein Vater jene Frau, die aufgrund ihrer Lotusfüße anscheinend der feindlichen Klasse angehörig war, beschäftigte, wurde ihm vorgeworfen, am revisionistischen Weg der alten Ordnung festzuhalten. Und Chunxiu musste wieder gehen.
Li Kunwu, der seine eigene Kindheit und Jugend in der dreibändigen Comicreihe ›Ein Leben In China‹ festhielt, setzte seiner einstigen Ziehmutter mit ›Lotusfüße‹ ein eindringliches Denkmal. Mit dem Band, den er mit ein wenig an Holzschnitte erinnernde Zeichnungen realisierte, erzählt er viel von der jüngeren chinesischen Historie, indem er sie von einem Einzelschicksal aus beleuchtet. Bestimmt ist es von Vorteil, einiges an Hintergrundwissen mitzubringen, um den Comic in seiner zeitlich-räumlichen Einordnung zu erschließen. Doch wie dem auch sei: Diese reale Geschichte eines individuellen Schicksals, eingebettet in die politischen Umwälzungen Chinas, geht einem nicht nur nahe: Sie geht an Mark und Bein.
Heute, wo nur noch wenige Frauen mit Lotusfüßen am Leben sind und die Schließung der letzten Fabrik für die entsprechenden Spezialschuhe 27 Jahre zurückliegt, kann man den Band getrost als wichtiges Zeitdokument betrachten.
Titelangaben
Li Kunwu: Lotusfüße
Aus dem Französischen von Christoph Schuler
Zürich: Edition Moderne 2015
128 Seiten, 19,80 Euro
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| Leseprobe
Schönheit kann nur dadurch entstehen, dass natürlicher Stumpfsinn überwunden wird.
Frau gehört ins Korsett. Das wußten die klugen schon immer.
Schönheit muß gewollt sein, sonst ist sie keine,
Auch Schmerzen haben ihre historischen Relationen. Und erforderliche Schmerzen in einer Kultur werden leichter ertragen als zufällige. Rituelle Schmerzen werden gar gewürdigt.
wer schön sein will, muß leiden. das gilt für die europäische wespentaille wie für den chinesischen fuß
die durchsetzung artistischer schönheit nuß schmerzen. sonst ist sie keine.
chinesische frauenfüße: je größere schmerzen durchgestanden werden mußten, um so schöner wurden sie.
die transformierten chinesischen frauenfüße waren die scönsten und anmutigsten, die es jemals gegeben hat. auf ihnen trippeln zu können, das war zauberhafte anmut.
Richtig gehen konnte eine chinesische Frau nach landläufiger Einschätzung erst, wenn die Transformation ihrer Füße gelungen war. Mit entsprechendem Stolz wurde getrippelt.
Der transformierte chinesische Frauenfuß war viele Jahrhunderte lang der Inbegriff von Schönheit. Das anachronistisch nicht zu akzeptieren, ist europäische Dummheit.