Comic | Marc-Antoine Mathieu: Otto
Das Leben – ein Spiel, rückblickend im Spiegel betrachtet: Comic-Grenzgänger Mathieu reflektiert in seinem neuen Band ›Otto‹ mit philosophischen Denkexperimenten über die Erinnerungen seines titelgebenden Helden. Er ist jüngst bei Reprodukt erschienen. CHRISTIAN NEUBERT ist begeistert.
Der französische Autorenzeichner Marc-Antoine Mathieu erschafft kühle, präzis umrissene Comic-Welten in Graustufen – und lotet ihre erzählerischen und formalen Grenzen aus. Er schickt seine Protagonisten via Spirale auf die nächste Seite, lässt sie zu spät zur eigenen Story erscheinen oder sich ihrer räumlichen Ausmaße bewusst werden. Einmal vollführt er auch einen Zeitsprung – mit beispiellos konsequenter Effektivität und Einfachheit. All das ist nachzulesen in seinen bisher sechs vorliegenden Alben um ›Julius Corentin Aquefaques, Gefangener der Träume‹.
Der titelgebende Held ist ein kleiner Beamter des Ministeriums für Humor. Meist hat er nicht viel zu lachen, wenn er aus seinem Bett heraus in bizarre Abenteuer stürzt – buchstäblich, quasi in umgekehrter Little Nemo-Manier: Der Sturz geht hier dem Alptraum voraus. Was für den Leser ein ungeahntes Vergnügen ist.
J.E. Aquefaques, ein Palindrom mit Hut und Aktenkoffer: Mathieu rollt mit ihm Kafka von hinten auf. Und schmeißt ihn in klaustrophobische, bizarr-bürokratische, surreal entrückte, gleichzeitig auch diffus vertraute Welten, wo er Held, Medium und Versuchsobjekt zugleich ist. Weil Mathieu neben – oder besser innerhalb – seiner formalen Grenzgänge über die großen, die wichtigen, die folgenschweren Themen reflektiert. Die ersten und die letzten Dinge. Sein und Zeit. Liebe, Tod und Teufel. Das Ich zwischendrin, verloren, geworfen, sich selbst überlassen. Und den Umständen, die es formen.
Von hinten wie von vorn
›Otto‹, der Held von Mathieus neuestem Werk, ist ebenfalls ein Palindrom. Er liest und spricht sich von hinten wie von vorn, sein Name ist in sich gespiegelt. Der geneigte Leser weiß, dass Spiegel bei Mathieu gern große Rollen spielen, bei seinem grandiosen ›3 Sekunden‹ zum Beispiel – und nun eben auch bei ›Otto‹. Otto ist Performance-Künstler. Seine Fans und Kritiker bezeichnen ihn als »Metaphysiker der Reflexion«. Und Spiegel sind sein Handwerkszeug.
Natürlich markiert das Zertrümmern der Spiegel, die Abkehr vom Abbild, den Höhepunkt seiner Karriere. Dort angelangt gerät Otto in eine Sinnkrise. Dann, auch das noch, sterben seine Eltern bei einem Autounfall. Nicht mal mehr die Scherben der zertrümmerten Frontscheibe auf der zerbeulten Kühlerhaube reflektieren ihr Lebenslicht. Sein Erbe: eine Truhe. Darin: Seine ersten sieben Lebensjahre, sorgfältig dokumentiert und protokolliert, per Bildern, Ton- und Videoaufzeichnungen und gesammelten Artefakten seiner gelebten Vergangenheit, vorgenommen für ein Projekt des »Internationalen Forschungsinstituts für die Psychologie des Selbst«.
Otto, der keinerlei Erinnerungen an seine Kindheit hat, gelangt hierdurch näher zu sich selbst. Durch die intensive Beschäftigung mit seiner Vergangenheit kommt er seiner Gegenwart auf die Schliche – was allerdings zulasten seiner Zukunft geht. Immerhin vollzieht sich die Aufarbeitung seiner Kindheit maximal in Echtzeit. Sie aufzuholen, sich selbst nachzugehen, anhand minutiöser Aufzeichnungen, im Rückblick, im Rückspiegel: Das beansprucht Jahre. Zumal dabei die Gefahr besteht, sich selbst über den Kopf zu wachsen.
Von vorn bis hinten
Der Comic ist ein gedankenschwangerer Kommentar zur Lebenssituation seines Protagonisten, festgehalten in makellosen, kontrastreichen Bildern, die Mathieus philosophische Denkexperimente schon in ihrer Geometrie und ihren abgrundtiefen Schatten tragen – und insofern ein echter Mathieu. Sein grenzgängerischer Ansatz als Comic-Künstler ist singulär und verblüfft seit 30 Jahren, weswegen er sich mit jedem neuen Band zunächst an sich selbst messen muss. Wer sein Werk kennt, weiß, dass er immer wieder aufs Neue einen unerhörten Clou erwarten darf. Und auch, wenn die große Sensation hier und da ausbleibt: So richtig enttäuscht wird man nie.
Auch bei ›Otto‹ nicht. Ganz im Gegenteil ist der Comic eine gehaltvolle Reflexion mit Witz und Spannung, die sich mit traumwandlerischer Sicherheit zwischen ihren Metaebenen bewegt. So etwas kriegen nur ganz wenige hin, Mathieus Messlatte überragt nun mal. Man kann bei ›Otto‹ daher unbesorgt zugreifen, der Band lohnt sich unbedingt. Auch, wenn Mathieu schon höhere Hürden an den Grenzen des Mediums gemeistert hat.
Titelangaben
Marc-Antoine Mathieu: Otto
Aus dem Französischen von Norma Cassau
Berlin: Reprodukt 2017
88 Seiten, 20 Euro
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