/

Zurück in die Gegenwart

Menschen | Zum Tode des Schriftstellers Dieter Kühn

»Ich versuche bei einer Biografie immer eine Form zu entwickeln, die der Person und der Zeit entspricht. Ich gehe immer von der Gegenwart aus, gehe in die Vergangenheit und kehre zur Gegenwart zurück. Sonst wären diese Expeditionen vollkommen witzlos«, hatte der Schriftsteller Dieter Kühn 2002 in einem Deutschlandfunk-Interview erklärt. Von PETER MOHR

kuertenDieter Kühns literarische Arbeiten bewegten sich mehr als vierzig Jahre auf dem schmalen Grat zwischen Dichtung und Wahrheit, zwischen historisch fundierten Fakten und imaginierter Realität. Er versuchte in seinen Werken stets, Geschichte erfahrbar zu machen: Schriftsteller und Historiker verschmolzen und gingen eine für den Leser gewinnbringende Personalunion ein.

»Besonders durch die Deutung und Übersetzung mittelalterlicher Dichtkunst hat er das historische Gedächtnis unserer Gesellschaft entscheidend bereichert. Die Bücher und Hörspiele von Dieter Kühn verbinden Beobachtung, Reflexion und Erzählung zu einem für den Hörer wie Leser außerordentlich beeindruckenden Erlebnis«, erklärte der ehemalige NRW-Landesminister Michael Vesper 2004 in seiner Laudatio, als das Land Nordrhein-Westfalen dem Schriftsteller den Professoren-Titel verlieh.
Dieter Kühn, der am 1. Februar 1935 in Köln geboren wurde, verbrachte seine Kindheit und Jugend in Bayern, ehe die Familie Anfang der 50er Jahre nach Düren zog. Sein Studium (Germanistik und Anglistik) schloss er 1964 in Bonn mit der Promotion über Robert Musils Roman ›Der Mann ohne Eigenschaften‹ ab. Bereits mit seiner ersten größeren Prosaarbeit ›N‹ (1970), einer semifiktiven Napoleon-Biografie, schienen die künstlerischen Weichen gestellt zu sein. Mit großer Leidenschaft hat sich Dieter Kühn in der Folgezeit den literarisch anspruchsvollen Biografien gewidmet – Beethoven, Goethe, Schiller, Carl Philipp Moritz, Clara Schumann, Gertrud Kolmar und Maria Sibylla Merian hat er opulente Erzählwerke gewidmet.

Sein zweites großes künstlerisches Steckenpferd war die mittelalterliche Dichtung. Dieter Kühn hatte sich die zeitgemäße Vermittlung auf seine Fahnen geschrieben. In ›Ich Wolkenstein‹, ›Neidhart und das Reuental‹, ›Tristan und Isolde des Gottfried von Straßburg‹ und der Übersetzung des ›Parzival‹ von Wolfram von Eschenbach zeichnet sich der in Brühl (vor den Toren Kölns) – unweit des Phantasialandes – lebende Schriftsteller nicht nur als exzellenter Kenner der mittelhochdeutschen Literatur, sondern auch als deren »spannender Übersetzer« aus.

Dieter Kühn hat sich als äußerst produktiver und ausdauernder literarischer Wilderer in den
Distrikten der Philologie und (Kunst-)Geschichte einen Namen gemacht. An der großen Merian-Biografie (2002) hat er beispielsweise mehr als zehn Jahre gearbeitet.

Im Frühjahr war zuletzt unter dem Titel ›Die siebte Woge‹ der zweite Teil seines autobiografischen »Projekts« erschienen – ein ›Logbuch‹, in dem er wie in einer Art retrospektiven Selbstbefragung sein persönliches Verhältnis zum Schreiben, zur Kunst, zu großen Dichtern, Künstlern und Philosophen nachzeichnete. Am Samstag ist Dieter Kühn im Alter von 80 Jahren gestorben.

| PETER MOHR

Lesetipp
Dieter Kühn: Die siebte Woge. Mein Logbuch
S. Fischer Verlag Frankfurt 2015
520 Seiten, 24,99 Euro

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Plattenbau und Karussell

Nächster Artikel

Eine zu große Bürde

Weitere Artikel der Kategorie »Menschen«

Ich bin mir selbst ein Rätsel

Menschen | Zum 80. Geburtstag des Schriftstellers Hartmut Lange »Es ist die Kunst, die es uns ermöglicht, die Grenze vom Leben zum Tode niederzureißen«, heißt es – durchaus charakteristisch für Hartmut Langes gesamtes Werk – in der Novelle ›Die Cellistin‹. Heute wird der Individualist und Sprachvirtuose 80 Jahre alt. Von PETER MOHR

Chronist des Schreckens

Menschen | Zum 125. Geburtstag des Autors Theodor Plievier Der Name Theodor Plievier und sein 1945 erschienener Roman ›Stalingrad‹ werden in der deutschen Literaturgeschichte nahezu als Synonyme behandelt. Dieser vehemente Anti-Kriegsroman wurde in 30 Sprachen übersetzt, erreichte Millionenauflagen und brachte seinem Autor ungeheure Popularität ein. PETER MOHR zum 125. Geburtstag von ›Stalingrad‹-Autor Theodor Plievier am 12. Februar

Buy The Ticket, Take The Ride… But Read The Interview First!

Interview | Craig Bratley Craig Bratley’s debut album ›Buy The Ticket, Take The Ride‹ is one of the most exquisite, engaging and spine-tingling house records that you will have the pleasure of hearing all year. Out on the 24th November on vinyl, or the 15th December on digital download, the album is a must listen for anyone who likes their music low-centred, and groovy. With a cheeky sense of humour (check out the hipster rap of Dance With A Mannequin), the record’s ten tracks brim with a sense of playfulness and a lightness of touch that help make Buy the

Die erträgliche Leichtigkeit des Romanciers

Menschen | Zum 90. Geburtstag des großen Schriftstellers Milan Kundera am 1. April »Man muss sie lieben, die Bedeutungslosigkeit, man muss lernen, sie zu lieben«, verkündet Ramon, eine der Hauptfiguren in Milan Kunderas letztem Roman ›Das Fest der Bedeutungslosigkeit‹ (2015). Es war ein spielerisches Buch der großen Gegensätze – von Liebe und Hass, von Tragik und Komik, von Wahrheit und Lüge, von Aufrichtigkeit und Selbsttäuschungen. Von PETER MOHR

Totale Indolenz

Menschen | Felix Römer: Kameraden Nach Sönke Neitzels und Harald Welzers Soldaten ist eine zweite große Studie zur Mentalitätsforschung in Sachen Wehrmacht erschienen: Für Kameraden hat der Historiker Felix Römer die Ab- und Verhörprotokollen aus einem amerikanischen Geheimlager für Kriegsgefangene ausgewertet. Der Zweite Weltkrieg aus deutscher Perspektive im O-Ton – minutiös dokumentiert und glänzend erzählt. Von PIEKE BIERMANN