//

Die Polarlandschaft der Nietzsche-Welt

Sachbücher | Literatur zu Nietzsche

Leben, Werk und Rezeption Friedrich Nietzsches im Spiegel neuerer Literatur. Vorgestellt von DIETER KALTWASSER

Die zehn Jahre in Nietzsches Leben zwischen seiner Entlassung aus Krankheitsgründen von seinem Lehramt als Philologieprofessor in Basel um 1879 und dem Ausbruch seiner Geisteskrankheit im Januar 1889 waren rar an äußeren Ereignissen. Die einzige ständige Begleiterin seines stetigen Wanderlebens zwischen Meer und Hochgebirge war die Krankheit. Erwin Rohde, ein Freund aus frühen Tagen, fasst seine letzte Begegnung mit Nietzsche in den Worten zusammen: »Eine unbeschreibliche Atmosphäre der Fremdheit, etwas mir damals völlig Unheimliches umgab ihn. Als käme er aus einem Land, wo sonst Niemand wohnt.«

Meier - Nietzsches VermaechtnisIm Sommer 1888 entstand in Sils Maria auf dem Hintergrund des Großprojekts einer »Umwertung aller Werte« die »Götzen-Dämmerung«, Nietzsches »große Kriegserklärung« an all das, was bislang für wahr gehalten wurde. Er begrub damit auch seinen ›Willen zur Macht‹, wie Heinrich Meier in seinem Buch ›Nietzsches Vermächtnis‹ betont und sich Interpretationen der beiden zuletzt entstandenen Schriften ›Ecce Homo‹ und der ›Der Antichrist‹ widmet.

Im September 1888 quartierte Nietzsche sich über den Winter in Turin ein, wo er beide Werke abschloss. Meiers Buch versucht Antworten darauf zu finden, was ein Philosoph ist und was ein philosophisches Leben ausmacht. Nietzsche verhandle in seinem »Zweigespann« das Verhältnis zwischen Natur und Politik sowie der »Selbstverständigung«, die er in seinem Werk ›Also sprach Zarathustra‹ erreicht hatte. Er sieht in beiden Schriften, die in ihrer Zusammengehörigkeit bislang nicht erkannt worden seien, das späte Hauptwerk, das an die Stelle des verworfenen ›Willens zur Macht‹ trete. Meier gelingt es, neue Perspektiven auf Nietzsches Denken zu werfen und an seine Deutungen von ›Also sprach Zarathustra‹ anzubinden.

Als Nietzsche im Januar 1889 in Turin ein misshandeltes Droschkenpferd umarmte, holte ihn Franz Overbeck ab und reiste mit dem brombetäubten Freund über die Alpen in eine Basler Irrenanstalt. Zwölf Jahre später, am 25. August 1900, nach Aufenthalten in Jena und Naumburg, starb Nietzsche, gelähmt und geisteskrank, von seiner Schwester Elisabeth gepflegt und ausgewählten Besuchern im weißen Gewand vorgeführt, 55jährig in Weimar. Sein letztes Wort sei, so die Legende, »Elisabeth« gewesen. Ein einsamer Weg der Philosophie war an sein Ende gelangt.

Mehr Gerücht als Mensch ist die Nietzsche-Schwester bislang gewesen. Doch der Status, den Nietzsche hat, ist in zu nicht geringen Teilen ihr Verdienst. Sie wurde 1846 im Pfarrhaus zu Röcken geboren. Ab den 1890 Jahren gab die Schwester die Texte des Bruders heraus und veranlasste zahlreiche Übersetzungen in andere Sprachen. Sie war 1893 nach dem Tode ihres Ehemanns Bernhard Förster, einem ehemaligen deutschnationalen und antisemitischen Gymnasiallehrer, aus Paraguay nach Naumburg zurückgekehrt.

In seinem detailreichen Buch: »Der Kampf um Nietzsche« belegt Nils Fiebig anhand zahlreicher Beispiele, wie sich Förster-Nietzsche durch die Gunst der Umstände eine unantastbare Rolle als Gralshüterin des Nietzsche-Kults erwarb. In dem von ihr begründeten Nietzsche-Archiv herrschte sie autokratisch über den literarischen Nachlass ihres Bruders.

Erst Rudolf Steiner machte ihre »mangelnde Integrität und mangelhaften philologischen Kenntnisse« Anfang 1900 öffentlich. Mit Verleumdungen wehrte sie sich gegen ihre Kritiker. Wegen ihres ambivalenten Verhaltens und »subjektiven Rechtsempfindens« verstrickte sie sich in zahlreiche und aufwendige Gerichtsprozesse.

Fiebeig: Der Kampf um NietzscheDer »Kampf um Nietzsche« entwickelte sich zu einer medialen Diffamierungskampagne der Hauptbeteiligten. Förster-Nietzsche zögerte nicht, die antisemitische Karte gegen einen ihrer Gegner auszuspielen. Sie sicherte sie sich zudem die Urheberrechte für die Nachlasskompilation des ›Willens zur Macht‹.

Die nationalsozialistische Verzerrung des Begriffs »Übermensch«, der bei Nietzsche auf radikalaufklärerische Vorstellungen vom überlegenen Menschen verweist, ist dem späteren Anbändeln der Schwester an den Nationalsozialismus anzulasten. Lange bevor sie als Weimarer Gralshüterin Hitler die Hand reichte, hatte Nietzsche seine Schwester bereits als eine »rachsüchtige antisemitische Gans« bezeichnet.

Sieg - Macht des Willens 9783446258471Der Historiker Ulrich Sieg hat mit einer lesenswerten Biographie ›Die Macht des Willens‹ einer Reihe bislang unbekannter Dokumente entdeckt, die Elisabeth Förster-Nietzsche als eine Frau zeigen, die zu ihrer Zeit ihren Ehrgeiz nur in der Rolle der Schwester ausleben konnte. Er schildert eindrucksvoll, wie erfolgreich den Nachlass des Philosophen publizierte, wobei sie allerdings vor Fälschungen nicht zurückschreckte. In unterschiedlichen Perioden deutscher Geschichte gelang es ihr, nach der Eröffnung des Nietzsche-Archivs 1894, Nietzsche einer breiten Leserschaft zuzuführen.

Nietzsches Glorifizierung durch die Schwester passte besonders gut zum Nationalsozialismus und wurde von diesem adaptiert. Erst nach 1945 ebbte der Bedarf nach einem »heroischen Nietzsche« endgültig ab, zehn Jahre nach dem Tod Elisabeth Förster-Nietzsches.

| DIETER KALTWASSER

Titelangaben
Nils Fiebig: Der Kampf um Nietzsche
Weimar Weimarer Verlagsgesellschaft 2018
288 Seiten, 36 Euro
| Erwerben Sie dieses Buch portofrei bei Osiander

Heinrich Meier: Nietzsches Vermächtnis
Ecce homo und der Antichrist
München: C.H. Beck, 2019
351 Seiten, 28 Euro
| Erwerben Sie dieses Buch portofrei bei Osiander
| Leseprobe

Ulrich Sieg: Die Macht des Willens
Elisabeth Förster-Nietzsche und ihre Welt
Hanser: Berlin 2019
430 Seiten, 26 Euro
| Erwerben Sie dieses Buch portofrei bei Osiander
| Leseprobe

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

London zu Gast in Hamburg

Nächster Artikel

Warum wir betrügen

Weitere Artikel der Kategorie »Menschen«

Ein It Girl mit Fehlern

Jugendbuch | Lena Dunham: Not That Kind of Girl Memoiren mit 28? Vielleicht ein bisschen früh. Vielleicht aber ein spannender Blick in das Leben einer jungen Frau, die 2012 für vier Emmys nominiert wurde und 2013 zwei Golden Globes erhielt. ANDREA WANNER war neugierig.

Der verstummte Dichter

Menschen | Zum 25. Todestag von Wolfgang Koeppen

Er ist heute noch ein großer Unbekannter, obwohl er zu den herausragenden deutschsprachigen Romanciers nach dem Zweiten Weltkrieg gehört. Die Rede ist von Wolfgang Koeppen, der früh das Schreiben eingestellt, kaum Interviews gegeben hatte und so schon zu Lebzeiten zum Mythos avanciert war. Von PETER MOHR

Das Leben war ein Gespräch

Menschen | Zum Tode des Georg-Büchner-Preisträgers Tankred Dorst »Unser Leben ist ein Gespräch.« So hatte Tankred Dorst 2005 die Beziehung zu seiner langjährigen Lebensgefährtin und Co-Autorin Ursula Ehler beschrieben, die er Anfang der 1970er Jahre bei der Arbeit am Fernsehfilm ›Sand‹ kennengelernt hatte. Von PETER MOHR

Poesie des Scheiterns

Menschen | Zum 80. Geburtstag des Schriftstellers Volker Braun »Was erwartet ihr von mir? Widerspruch. Widersprüchliches werdet ihr hören«, heißt es im jüngst erschienenen Aphorismenband ›Handstreiche‹. Volker Braun hat stets die leisen Töne bevorzugt, das klassenkämpferische verbale Gepolter war nie seine Sache: kluge philosophische Sentenzen hat er stets gepaart mit einem untrüglichen Gespür für gesellschaftliche Veränderungen – so auch in ›Machwerk oder Das Schichtbuch des Flick von Lauchhammer‹ (2008). Darin setzte er sich mit den gravierenden Veränderungen im Arbeitsalltag und dem Verschwinden vieler industrieller Arbeitsprozesse auseinander. Ein Porträt von PETER MOHR

Ausgewechselt in der zweiten Halbzeit

Menschen | Monica Lierhaus: Immer noch ich Monica Lierhaus war die erfolgreichste deutsche Sportjournalistin, behauptete sich selbstbewusst in einer Männerdomäne und wurde verlässlich getragen von einer intakten Familie und einer langjährigen Partnerschaft. Doch eine unglückliche Verstrickung von Komplikationen während einer Gehirnoperation beförderte die junge Frau 2009 ins Abseits. Sieben Jahre später blickt sie zurück und zieht gleichermaßen verwundert wie stolz das Resümee: Immer noch ich. Von INGEBORG JAISER