Der Journalist und Autor Stefan Aust wurde 1946 in Stade geboren. Kindheit und Jugend verbrachte er mit seinen Eltern und den vier Geschwistern auf einem kleinen Obsthof in der Nähe der Elbe. Dort erlebte er im Februar 1962 die große Sturmflut, bei der mehrere Kühe ertranken. Seine ersten journalistischen Erfahrungen machte er bei einer Schülerzeitung. 1966 wurde er Redakteur bei der Zeitschrift konkret, wo er die spätere RAF-Terroristin Ulrike Meinhof kennenlernte. Sein Wissen über die RAF verarbeitete er 1985 in dem Buch Der Baader-Meinhof-Komplex, das 2008 verfilmt wurde. Von 1972 bis 1987 war Stefan Aust für das Fernsehmagazin Panorama tätig. Die Bekanntschaft mit Rudolf Augstein führte dazu, dass er ab 1988 Chefredakteur bei Spiegel TV im Privatfernsehen wurde. Von 1994 bis 2008 leitete er das Nachrichtenmagazin Der Spiegel. Neben dem Reisen ist die Zucht von Pferden seine Leidenschaft. 2021 veröffentlichte Stefan Aust seine Autobiographie Zeitreise. Mit THOMAS COMBRINK spricht er über wesentliche Stationen seines Lebens.
Welche Erinnerungen haben Sie an Ihren Großvater Albert Aust, der von 1865 bis 1962 lebte?
Ich kann mich an meinen Großvater gut erinnern, denn der war zwar ein alter Mann, aber er war so etwas wie ein Blankeneser Original. Er lief die Treppen rauf und runter am Abhang der Elbe, hatte immer einen Stehkragen und eine Kapitänsmütze auf, besaß einen kleinen Schnurrbart und war ziemlich bekannt. Er war die tonangebende Figur in der Familie über viele Jahrzehnte. An seinem 90. Geburtstag musste ich ein Gedicht aufsagen, das mein Schullehrer ausgesucht hatte. Als ich in den alten Unterlagen gestöbert habe, die mein Großvater hinterlassen hat, fand ich ein Papier mit dem Gedicht, was ich mit verschiedenfarbigen Buchstaben aufgeschrieben hatte. Es war der „Türmer“ von Goethe.
Ihr Großvater war über achtzig Jahre älter als Sie. Hat er Ihnen von seiner Kindheit und Jugend erzählt?
Er war die wichtigste Figur in der Familie und ich hatte einen kleinen Draht zu ihm, aber dass er mir Geschichten aus der eigenen Kindheit oder Jugend erzählt hätte, war nicht der Fall. Er hat Briefmarken gesammelt, sie in kleinen Stapeln mit Zwirnsfäden verschnürt. Das waren keine wichtigen Marken. Manchmal hat er gesagt, dass er sie mir vererben wird, aber wo die geblieben sind, weiß ich nicht. Wir sind häufig bei ihm gewesen in Blankenese.
Ihre Eltern besaßen einen kleinen Hof in der Nähe der Elbe.
Der Hof war an einem Nebenfluss der Elbe, der Schwinge, aber dicht an der Mündung. Es waren von unserem Hof bis zur Elbe vielleicht 200 oder 300 Meter, so dass wir immer sowohl das auflaufende als auch das ablaufende Wasser hatten. Wenn wir mit Booten gefahren sind, sind wir auch auf die Elbe gefahren.
Was haben Ihre Eltern angebaut auf dem Hof?
Der Hof war ein ziemlich matschiges Grundstück. Er war aufgeschwemmt worden mit Schlick aus der Elbe. Dann hat mein Vater angefangen, einen Obsthof zu betreiben. Es gab schon Obstbäume dort, alte Sorten. Er hat versucht, so wie das auf der anderen Seite der Schwinge im Alten Land passierte, eine größere Apfelplantage mit modernen Sorten anzurichten. Cox Orange, Altländer Cox, Ingrid-Marie und wie diese Apfelsorten alle heißen. Ich kenne mich mit Apfelsorten immer noch aus.
Mussten Sie mithelfen?
Wir waren fünf Kinder, ich war der Älteste und der Hof brachte nicht viel Geld ein. Angestellte gab es nicht. Es gab Leute, die im Sommer ein bisschen mitarbeiteten, aber wir mussten alle von klein auf intensiv mithelfen. Wir mussten die Ställe mit ausmisten, wir mussten Äpfel pflücken oder auch Apfelkisten schleppen, vor allen Dingen mussten wir viel mit dem Trecker fahren. Das haben wir auch gern getan. Wir hatten einen kleinen Holder Diesel mit 15 PS, den musste man vorne ankurbeln. Das war nicht einfach. Aber das konnten wir schon in frühem Alter.
Wie haben Sie die Sturmflut erlebt im Februar 1962?
Unser Hof war im Außendeich. Er wurde also mehrmals im Jahr überschwemmt, wenn das Wasser über Normal hochging. Aber das Haus lag auf einer Wurt, einer Warft. Wenn das Wasser so hoch kommt, dass es ins Haus läuft, hieß es immer, dann läuft es auch über den Deich. Wir haben das häufig im Winter miterlebt, wenn Sturmflut war. Wir mussten dann nicht zur Schule, weil die Straßen unter Wasser standen. Aber in dieser Nacht, am 16. Februar 1962, weckte unser Vater uns. Da war das Wasser kurz davor, ins Haus zu laufen. Er rief bei der Polizei in Stade und sagte: Das Wasser läuft über den Deich. Da hat der Polizist am Telefon nur gesagt: Wer sind Sie überhaupt und was behaupten Sie hier? Die haben das nicht zur Kenntnis genommen. Mein Vater ist mit langen Gummistiefeln in den Stall gegangen, der ein bisschen tiefer lag und hat versucht, die fünf oder sechs Kühe loszubinden. Die waren alle noch festgekettet. Bei einer Kuh ist es ihm gelungen, die hat überlebt und wurde am nächsten Tag geschlachtet. Aber die anderen sind ertrunken. Unser Hund war auch im Stall und hat sich auf den Schrank gerettet. Dort saß er zitternd. Mit ablaufendem Wasser ist wieder alles frei geworden. Wie bei anderen Überschwemmungen haben sich die Mäuse und Ratten aus dem ländlichen Bereich an die höheren Stellen gerettet und liefen dann auf unser Haus zu. Wir Jungs haben sie mit langen Bohnenstangen totgeschlagen, später mit dem Luftgewehr erschossen, danach mit einem Kleinkalibergewehr.
Sie haben mir Ihrer Familie in einer alten Villa gewohnt.
Ursprünglich gehörte das Gelände zu einer Glashütte im 19. Jahrhundert. Da hat übrigens Max Brauer gearbeitet, der spätere Bürgermeister von Hamburg. Zu dieser Glashütte gehörten ein paar Mietskasernen, die hatte mein Großvater gekauft, als er mit seiner Reederei mehr oder weniger baden ging. Dann gab es eine ursprünglich schöne Villa, die gehörte auch zu dieser Glashütte. Die war ziemlich runtergekommen. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden dort Flüchtlinge einquartiert, so dass wir uns dieses Haus mit verschiedenen Familien teilen mussten.
Sie sind 1946 in Stade geboren worden. Haben Sie als Kind noch die Ruinen in Hamburg gesehen?
Nein, das kann ich nicht sagen. Hamburg war in manchen Bereichen plattgemacht von dem großen Angriff der Engländer auf die Innenstadt, aber das wurde schnell wieder aufgebaut und der Bereich, in dem wir häufig waren, in Blankenese, wo mein Großvater sein Haus hatte, war mehr oder weniger heil geblieben. Es war mal eine Brandbombe in unser Haus gegangen, dann war das Dach neu gedeckt worden mit Teerpappe. Man behauptete auch, dass die Engländer Blankenese nicht so angegriffen hätten, weil da Verwandtschaft gewohnt hat.
Wodurch sind Ihre politischen Interessen geweckt worden?
Wir hatten nicht viel Geld, aber mein Vater war belesen. Er hatte kein Abitur, sondern eine landwirtschaftliche Lehre gemacht. Zwischen den Kriegen hatte er 15 Jahre in den USA und in Kanada zugebracht. Aber er kannte Meyers Konversations-Lexikon von 1868 fast auswendig. Wir hatten den Lesezirkel abonniert, wir bekamen die Mappen einmal in der Woche mit allen Zeitungen und Zeitschriften. Die waren schon ein paar Wochen alt; deswegen waren sie relativ günstig. Mein Vater hat die von vorne bis hinten gelesen, unter anderem auch den „Spiegel“. Weil er sich mit der Welt, der Weltgeschichte und den politischen Ereignissen befasste und wir gelegentlich seine Brüder trafen, wurde bei uns viel über die Weltlage und über Politik geredet. Ich konnte schon lesen und schreiben, bevor ich zur Schule ging. Deswegen habe ich in jungen Jahren Zeitungen, Illustrierte und auch teilweise den „Spiegel“ gelesen. Wir hatten in der Grundschule (das war so eine Zwergschule) vier Jahrgänge in einer Klasse. Da hatten wir einen guten Lehrer, einen ehemaligen Wehrmachtsoberst. Er galt als einer der jüngsten Ritterkreuzträger der Wehrmacht. Er wurde später General bei der Bundeswehr. Als ich zur Grundschule ging, fing es an mit der Wiederbewaffnung der Bundeswehr. Ich kann mich erinnern, dass er drei Schüler nebeneinander stellte, einen großen, einen mittleren und einen kleinen. Er hat dem kleinen einen großen Stock in die Hand gegeben. Dann hat er gefragt: Wenn Ihr diese drei jetzt angreifen würdet, wen würdet Ihr am wenigsten angreifen? Dann haben alle gesagt: Den mit dem Knüppel in der Hand. Da hat er gesagt: Seht Ihr, deswegen machen wir eine Wiederbewaffnung.
Können Sie sich an die „Spiegel“-Affäre 1962 erinnern?
Wir mussten wegen der Sturmflut unsere Wohnung im Parterre räumen und sind mit den Nachbarn zusammengezogen nach oben, bis es unten wieder trocken war. Dadurch hatten wir einen Fernseher, der gehörte den Nachbarn. Wir hatten vorher keinen. Ich kann mich daran erinnern, dass wir im Fernsehen die Bilder gesehen haben von der Besetzung des Verlagsgebäudes, also des Pressehauses. Mein Vater war eher ein Konservativer, obwohl er den „Spiegel“ gelesen hat, meistens kritisch. „Sollen sie das Scheißblatt doch endlich verbieten“, sagte er.
Wie sind Sie zur Zeitschrift „konkret“ gekommen?
Ich habe Abitur gemacht und bei der Schülerzeitung gearbeitet. Dadurch konnte ich meine Nase in Sachen stecken, die mich nichts angingen. Deswegen habe ich den Journalismus für einen interessanten Job gehalten. Ich konnte nicht schreiben, aber ich konnte ein Blatt machen. Erst viele Jahre später habe ich gemerkt, dass ich nicht schreiben konnte, weil ich nichts zu erzählen hatte. Aber ich hatte einen Blick für gute Themen. Ich habe mir für die Schülerzeitung Leute gesucht in der Redaktion, aber auch außerhalb der Schule, die dort Artikel geschrieben haben. Henryk Broder habe ich bei einem Schülerzeitungstreffen kennengelernt. Der hat für meine Schülerzeitung unter anderem geschrieben. Bei dieser Schülerzeitung war Wolfgang Röhl, der zwei Klassen unter mir war. Er war der jüngere Bruder von Klaus Rainer Röhl, welcher der Herausgeber, Verleger und Chefredakteur der Zeitschrift „konkret“ war. Seine Ehefrau war Ulrike Meinhof. Als Ulrike damals Fernsehfilme für „Panorama“ machte, saßen wir häufig bei Röhls Eltern in Stade und haben uns das im Fernsehen angesehen. „konkret“ war keine linke Zeitschrift, wie ich sie lesen oder kaufen würde, aber Röhl hatte mich gefragt, ob ich nach dem Abitur bei ihm anfangen wollte. Ich wollte nur neben dem Studium ein bisschen jobben. Als ich bei „konkret“ war, habe ich Layout gemacht, den Laden gemanagt und organisiert. Wir waren nur drei Leute. Das waren Klaus Rainer Röhl, eine Sekretärin und ich. Röhl war im Sommer, aber auch sonst viel auf Sylt, hat Artikel redigiert. Ich war der Meinung, dass es gut ist, dass es eine solche Zeitschrift gibt, aber ich muss nicht mit allem einverstanden sein, was in diesem Blatt steht. Es standen Dinge darin, die ich auch in jungen Jahren vertreten hätte. Ich war gegen den Vietnamkrieg, aber nicht weil ich für Nordvietnam gewesen bin, sondern weil ich der Meinung war, dass man keinen Krieg beginnen sollte, den man nicht gewinnen kann. Ich habe am Straßenrand der Geschichte gestanden, habe die Geschehnisse begleitet und beobachtet. Aber ich war nie besonders links. Ich war eher ein Anarcho-Liberaler.
Sie waren mit Rudi Dutschke 1968 in Prag.
Der Prager Frühling war das erste Mal, dass der revolutionäre Impetus, der im Westen vorhanden war, plötzlich auf den Ostblock überschlug. Da wollte Alexander Dubček einen „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“ machen. Plötzlich kam im Ostblock etwas in Bewegung. Das hat nicht lange gehalten. Das wollte ich mir ansehen. Dann stellte sich heraus, dass mehr oder weniger zufällig zur selben Zeit Rudi Dutschke nach Prag fahren wollte, den ich etwas aus der Berliner Szene kannte. Es waren noch andere Leute dabei: Clemens Kuby zum Beispiel, der Sohn des bekannten Journalisten und Schriftstellers, der Bücher in der Tschechoslowakei herausgegeben hatte. Das Geld hatte er nicht in den Westen transportieren können und deswegen konnten wir gut essen und wohnten in einem ordentlichen Hotel. Dadurch bin ich mit Dutschke ins Gespräch gekommen. Wir wollten zusammen eine Geschichte für „konkret“ schreiben. Als wir nach ein paar Tagen wieder zurückgefahren sind, er nach Berlin und ich nach Hamburg, kam er mit seiner Geschichte nicht rüber. Dann bin ich an einem Mittwochabend nach Berlin geflogen und habe mich mit Rudi Dutschke getroffen. Wir haben über diese Geschichte geredet. Er sagte, dass er sich jetzt an den Text machen würde, er müsste nur am nächsten Tag noch ins SDS-Zentrum fahren und ein paar Materialien holen, die er dort gebunkert hatte über unsere Prag-Reise. Ich bin zum Flughafen gefahren am nächsten Morgen, habe vorher mit ihm telefoniert. Wir hatten uns für das Wochenende wieder verabredet. Am Flughafen Tempelhof wurde ich plötzlich ausgerufen von Clemens Kuby, der mit uns in Prag gewesen war. Der holte mich ans Telefon und sagte: Es ist ein Attentat auf Rudi verübt worden, komm bitte sofort zurück. Ich fahre mit Gretchen ins Krankenhaus. Er ist schwer verletzt. Dann bin ich mit dem nächsten Taxi zum Kurfürstendamm gefahren. Da lag sein Fahrrad auf der Straße und in einer großen Blutlache lagen auch seine Schuhe. Das war unmittelbar vor dem SDS-Zentrum. Und ich bin raufgegangen ins SDS-Zentrum, wo große Panik und Angst herrschten. Es gab Tränen. Dort habe ich Ulrike Meinhof getroffen, mit der ich das Wochenende unterwegs gewesen bin bei den Demonstrationen gegen das Springer-Haus.
Haben Sie mit Dutschke in Alltagssprache geredet?
Bei Veranstaltungen und Diskussionen hatte er diese merkwürdige Sprechweise. Wenn man die Texte später gelesen hat, wusste man nicht, was er sagen wollte. Das Wichtige an ihm war der Ton der Sprache, die Musik. Man konnte normal mit ihm reden. Als wir in Prag unterwegs waren, habe ich ihn gefragt: Rudi, wie denkst Du wirklich? Dann fing er an, über Freiheit zu reden. Am Ende habe ich gesagt: Ach, so ähnlich wie die FDP. Da hat er gelacht und erwiderte, es sei ein bisschen anders gemeint. Ich habe für „konkret“ eine große Geschichte geschrieben nach dem Attentat auf Rudi Dutschke, wo ich das alles zusammengefasst habe.
Wie gefährlich war die Zeit in den siebziger Jahren für Sie mit der RAF?
Ulrike Meinhof hatte ihre siebenjährigen Zwillinge auf die Insel Sizilien gebracht. Die sollten in ein palästinensisches Kinderguerillacamp geschickt werden. Das war ausgerechnet vor dem Ausbruch des Schwarzen September, als 1970 etwas losging im jordanisch-palästinensischen Bereich. Wir fanden es gefährlich, die Kinder in eine solche Gegend zu schicken und zu Kinderguerillas auszubilden. Ich konnte in Erfahrung bringen, wo die Kinder waren. Dann bin ich nach Sizilien gefahren und habe so getan, als sei ich von der Gruppe geschickt worden, um die Kinder abzuholen. Ich habe sie dem Vater zurückgegeben. Als die RAF erfahren hat, dass die Kinder weg waren und wer sie ihnen abgenommen hat, sind Andreas Baader und Horst Mahler nach Hamburg gekommen und wollten uns abknallen. Darüber habe ich später mit Horst Mahler intensiv gesprochen. Das war eine gefährliche Situation. Da sind wir nachts spät noch abgehauen, haben uns auch bewaffnet. Ich bin eine Zeitlang mit einer Knarre rumgelaufen und rumgefahren. Aber es war nicht unbedingt notwendig.
Wie haben Sie Hanns Martin Schleyer kennengelernt?
Ich hatte 1974 für „Panorama“ den Auftrag, ein Doppelporträt zu machen über den Arbeitgeberpräsidenten und den Chef des deutschen Gewerkschaftsbundes. Das waren Hanns Martin Schleyer und Heinz-Oskar Vetter. Da habe ich im Büro von Schleyer angerufen und gesagt, dass ich gern einen Bericht über ihn machen würde. Ich würde ihn gern eine Woche oder ein paar Tage begleiten. Dann habe ich ihn ziemlich schnell ans Telefon bekommen. Er hat sich das angehört und gesagt, sein Sohn hätte ihn dringend davor gewarnt, das zu machen mit mir. Aber er fände es auch interessant. Dann bin ich eine Woche mit ihm durch die Gegend geflogen und gefahren. Abends sind wir in Düsseldorf in der Altstadt gewesen und haben Rotwein getrunken. Als Person fand ich Schleyer interessant. Ich habe trotzdem einen kritischen Film über ihn gemacht. Ein paar Wochen oder vielleicht auch Monate nach diesem Film habe ich ihn auf dem FDP-Parteitag in Hamburg getroffen. Da kam er auf mich zu und sagte: Da haben Sie mich schön in die Pfanne gehauen. Das hat mein Sohn richtig gesehen, was Sie vorhaben. Aber wir können bei Gelegenheit mal wieder in der Altstadt einen trinken gehen.
Wie war Ihr Verhältnis zu Rudolf Augstein?
Beim NDR habe ich zuerst für das Nachmittagsprogramm, für das Frauenjournal und für Kulturzeitsendungen gearbeitet. Dann fragte eines Tages Peter Merseburger mich, ob ich für „Panorama“ einen Film machen wollte über Rudolf Augstein, der 1972 für die FDP in den Bundestag einziehen wollte. Weil ich mit Augsteins damaliger Lebensgefährtin einen meiner ersten Filme zusammen gemacht hatte, kannte ich ihn. Dann bin ich ungefähr eine Woche lang mit Augstein durch dessen Wahlkreis gezogen, Paderborn und Rheda-Wiedenbrück. Als ich das Material auf dem Schneidetisch mir angesehen habe, fand ich es hinreißend. Aber Augstein machte keinen besonders guten Eindruck. Dann habe ich überlegt: Wenn Du daraus einen möglichst interessanten, also kritischen Film machst, dann redet der bestimmt kein Wort mehr mit Dir. Andererseits wollte ich nicht bei meinem ersten „Panorama“-Beitrag die interessantesten Stellen rausschneiden. Wie würde Augstein in einer solchen Angelegenheit vorgehen, habe ich mich gefragt. Er würde daraus den Film machen, den er aus dem Material machen kann. Augstein hat dann acht Jahre lang kein Wort mit mir geredet. Volker Schlöndorff und Alexander Kluge wollten 1980 einen Film über Franz Josef Strauss machen, vor der Bundestagswahl, als er sich zum Kanzler wählen lassen wollte gegen Helmut Schmidt. Da hat Augstein ihnen gesagt, sie sollten mich fragen, ob ich mitmachen will. Ich habe Kluge gesagt, dass Augstein, der den Film als Besitzer des Filmverlags der Autoren mit finanziert, das niemals zulassen wird. Kluge sagte, dass es Augsteins Vorschlag war, mich zu fragen. Dann war die Sache wieder erledigt.
Warum haben Sie 1986 bei „Panorama“ aufgehört?
Ich hatte mich im Laufe der Jahre intensiv mit dem Terrorismus, mit der RAF, beschäftigt. Ich hatte auch viele Beiträge für „Panorama“ und für „Brennpunkt“ darüber gemacht. Dann war 1982 ich zufällig zu einer Theaterpremiere in Zürich, wo eine Freundin von mir Minna von Barnhelm spielte. Da habe ich bei der Party hinterher Thomas Brasch getroffen, den aus der DDR ausgewiesenen Schriftsteller. Der hatte ein Buch von mir gelesen über den Mordfall Ulrich Schmücker. Brasch fragte mich: Warum schreibst Du nicht die Geschichte der RAF? Dann bin ich mit meinem Auto wieder zurückgefahren, bin beim NDR auf eine halbe Stelle gegangen und habe das Buch „Der Baader-Meinhof-Komplex“ geschrieben.
Wie sind Sie 1988 zu „Spiegel TV“ gekommen?
Ich hatte diesen Film über Strauss zusammen mit Schlöndorff und Kluge gemacht. Danach haben wir einen Film gedreht mit dem Titel „Krieg und Frieden“. Dann kam das private Fernsehen auf. Alexander Kluge hatte eine geniale Idee, nämlich Sendeflächen für die Fensterprogramme beim privaten Fernsehen zu besorgen. Und da hat er den „Spiegel“ gefragt, ob die nicht einen dieser Sendeplätze bestreiten wollen. Augstein hat die Bedingung gestellt, dass ich das machen sollte. Ich habe den Auftrag bekommen, ein solches Format zu entwickeln. Dadurch habe ich die Möglichkeit gehabt, im privaten Fernsehen einen großartigen Sendeplatz zu bekommen, der auch relativ gut finanziert war.
Wodurch hat sich die Arbeit bei „Panorama“ von der bei „Spiegel TV“ unterschieden?
Das waren Welten. Allerdings gab es zu meiner Zeit bei „Panorama“ nur zwei Fernsehsender, das erste und das zweite Programm. Deswegen hatten wir im Durchschnitt immer fünfzig Prozent Marktanteil. Wir hatten eine große Reichweite. Ich hatte immer die Position, dass eine Sendung ohne einen Beitrag von mir eine verlorene „Panorama“-Sendung ist. Ich habe viel gearbeitet, viele Beiträge gemacht und hatte gute Redakteure, von denen ich gelernt habe. Und als ich mit „Spiegel TV“ anfing, konnte ich ein paar Dinge umsetzen, die ich bei „Panorama“ erfahren, erlebt, gelernt hatte. Andere Dinge wollte ich nicht umsetzen. Ich wollte keine Experteninterviews haben, keine Interviews mit Politikern. Ich wollte den Dokumentarfilm zurück ins politische Magazin bringen. Ich konnte natürlich nicht nur eigene Beiträge machen, sondern habe auch Leute engagiert. Deswegen war ich der Redaktionsmanager. Ich saß allerdings am Wochenende meistens dort und habe für diese jungen Redakteure, die keine Erfahrungen hatten mit dem Medium Fernsehen, die Filme weitgehend geschnitten und getextet. Aber die Redakteure und Reporter waren begabte, fleißige Leute, die auch nachts losgefahren sind, wenn es darauf ankam. Außerdem hatten wir gute Kamerateams.
Konnten Sie die Erfahrungen aus der Arbeit bei „konkret“ nutzen für die Tätigkeit beim Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“?
Ich habe viele Erfahrungen, die ich bei „konkret“ in den drei Jahren gesammelt hatte, mitnehmen können. Ich wusste, wie man ein Layout, wie man Überschriften und wie man Titelbilder macht. Das waren zwar andere Titelbilder, als wir sie später beim „Spiegel“ machten, aber da habe ich von Klaus Rainer Röhl eine Menge gelernt. Unsere Sendung „Spiegel TV“ war ein großer Erfolg in den letzten zwei Jahren, in denen ich das gemacht habe. Da hatten wir über vier Millionen Zuschauer im Durchschnitt. Zur selben Zeit sackte die Auflage vom „Spiegel“ in den Keller. Man nahm an, dass es vielleicht an der Konkurrenz zum „Focus“ lag. Aber ich war immer der Meinung, dass das Heft nicht gut genug gemacht ist. Der Geschäftsführer Seikel war besorgt und fragte mich: Woran liegt es, dass die Auflage so instabil ist? Herr Seikel, stehen Sie bitte auf und drehen sich um, sagte ich. Da hatte er hinter seinem Schreibtisch eine große Tafel hängen, mit den Titelbildern in Streichholzschachtelgröße. Dann war da eine gerade Linie. Immer wenn die Titelbilder über der Linie waren, war das über dem Durchschnitt und wenn sie darunter waren, waren sie unter dem Durchschnitt. Ich habe auf die Titel gezeigt und gefragt: Haben Sie den gelesen? Nein. Haben Sie den gelesen? Nein. Haben Sie den gelesen? Ja, zum Teil. Dann habe ich gesagt: Wenn nicht einmal Sie als Geschäftsführer den Titel liest, wer soll das Heft kaufen? Deswegen war ich der Meinung, dass der wichtigste Hebel die richtige Titelgeschichte, das richtige Titelbild und die richtige Titelzeile ist. Darauf habe ich mich von Anfang an konzentriert und die Auflage relativ schnell wieder stabilisiert.
Im Moment sind Sie Herausgeber der Tageszeitung „Die Welt“.
Ich habe ein Problem mit dem Begriff Herausgeber. Der einzige Herausgeber, der den Namen verdient hat, war Rudolf Augstein. Er war der Gründer und Herausgeber, der Kolumnist und wichtigste Gesellschafter des „Spiegel“. Ich war bei der „Welt“ zwischendurch eine Zeitlang Chefredakteur. Da wirkt man an der täglichen Gestaltung der Zeitung und des Online-Bereiches direkt mit. Gelegentlich bin ich in Konferenzen, kann schreiben, wenn ich will, nehme an verschiedenen Gesprächen teil, gebe auch mal einen guten oder einen schlechten Rat.
Gab es in Ihrer Familie Vorbilder für Ihre Arbeit?
Mein Großvater hat etwas ähnliches gemacht. Es gab Anfang des 20. Jahrhunderts die Mode, Postkarten zu sammeln. Er war Kaufmann und hatte mit Postkartenalben eine Vertretung übernommen. Dann ist er auf den Gedanken gekommen, Seeleute anzusprechen, damit sie ihm Fotos mitbringen aus den verschiedenen Städten und Ländern der Welt. Die hat er gut gedruckt, vervielfältigt und verkauft. Am Anfang hat er ziemlich viel Geld verdient. Ich bin vor ein paar Jahren in Namibia gewesen. Da waren wir in Swakopmund im Museum. Plötzlich habe ich eine große Säule gesehen mit Postkarten. Das waren offenbar viele Postkarten, die mein Großvater verlegt hatte vor 100 Jahren.
Sie sind einerseits sesshaft und doch viel unterwegs.
Das gehört zusammen. Ich habe eine Basis, von der aus ich versuche, die Welt zu erkunden. Aber auch die Brüder und Schwestern meines Vaters, ebenfalls die Brüder und Schwestern meines Großvaters sind in die Welt hinausgefahren. Ein Bruder meines Großvater ist nach Argentinien ausgewandert, ein anderer nach Schweden. Mein Vater selbst war 15 Jahre in den USA und in Kanada. Mein Onkel, also der älteste Bruder meines Vaters, war fast 30 Jahre in China. Eine Tante war 15 Jahre in China, eine andere war in Guatemala. Eine Tante war Geographielehrerin in Hamburg und ist in den Ferien immer durch die Weltgeschichte gefahren.
Wohnen Sie auf Ihrem Gestüt in der Nähe von Stade?
Der Hauptwohnsitz ist in Hamburg, im Haus meines Großvaters, das ich mir Stück für Stück erobert habe. Auf dem Hof sind Angestellte, aber wir sind, so weit es geht, am Wochenende da. Früher haben meine Brüder und Schwestern dort gewohnt und meine Eltern. Wir haben unsere Zeit am Wochenende zusammen verbracht.
Ihr Pferdehof ist aber nicht der Obsthof an der Elbe?
Als mein Großvater gestorben ist, wollten die übrigen Kinder, die viele Jahrzehnte darauf gewartet hatten, zu erben, endlich Geld sehen. Das einzige, was man schnell verkaufen konnte, war dieses Grundstück, auf dem mein Vater den Hof betrieben hat. Dann wurde das als Industriegelände verkauft für gutes Geld. Auch mein Vater hat ordentlich etwas bekommen. Das Grundstück ist jetzt Teil des Hafens in Stadersand an der Elbe, also an der Schwinge-Mündung. Ich habe da ein Boot liegen, genau an der Stelle, wo früher auch unser Ruderboot lag, was wir vom Nachbarn immer ausgeliehen haben, ohne es zu dürfen. Unser Haus steht nicht mehr, aber die große Trauerbuche, die vor dem Haus stand, gibt es noch. Wenn ich da vorstehe, könnte ich noch jeden Griff tun, um raufzuklettern. Ich weiß genau, wo welche Kerbe und wo welcher Nagel reingeschlagen ist. Aber der Hof ist weg. Da ist jetzt ein Industriegelände. Was wir jetzt als Hof besitzen, habe ich Jahre später Stück für Stück erst gepachtet und dann gekauft.
Arbeiten Sie an einem Film?
Ich sitze gerade in dem Studio, in dem wir nachher wieder eine Sprachaufnahme machen für die Serie, die ich praktisch im Anschluss an mein Buch „Zeitreise“ mache. Das Buch ist wesentlich geschrieben auf der Basis von Filmen, die ich gemacht habe, erst bei „Panorama“, dann bei „Spiegel TV“, später auch bei „Welt“ oder unserem Sender „N24“. Aus den Filmen haben wir eine Serie von zehn Teilen gemacht und die vertonen wir gerade.
Wie ist es zu Ihrer Leidenschaft, dem Reiten, gekommen?
Wir hatten ursprünglich auf dem Hof meiner Eltern zwei Pferde vor dem Wagen. Die wurden abgeschafft, weil sie durchgegangen waren, über ein anderes Auto gelaufen sind. Dann hatten wir einen kleinen Trecker und über viele Jahre keine Pferde. Nach der Sturmflutkatastrophe, als die Kühe abgesoffen sind, hatten wir Weiden übrig. Dort durften die Ponys von einem Nachbarn grasen, und wir durften dafür darauf reiten. Dann wurden wir diesen Wahn nicht mehr los. Als mein Vater etwas erbte, kaufte er Pferde. Damit haben wir weitergezüchtet. Dann habe ich bessere Pferde angeschafft, nun haben wir bessere und in Wirklichkeit sind es viel zu viele. Mein Vater hatte drei Stuten gekauft: eine dreijährige, eine zweijährige und eine einjährige. Das war keine besonders gute Abstammung. Auf denen sind wir geritten, und mit denen haben wir Reitpferde gezüchtet. Irgendwann habe ich bessere dazugekauft und mit denen gezüchtet. Im Augenblick haben wir ungefähr 30 Pferde. Ich hatte aber auch schon mehr. Ich kann mich schwer von Pferden trennen. Ich verkaufe sie ungern. Wenn wir welche haben, die nicht mehr geritten werden können, weil sie zu alt geworden sind, dann füttern wir sie durch.
Haben Sie Probleme mit Wölfen?
Wir haben große Probleme mit Wölfen, weil unser Hof mitten in einem Wald ist. Da gibt es in der Zwischenzeit viele Wölfe. Die haben schon Schafe, Rinder und auch Pferde bei uns in der Nachbarschaft angegriffen. Deswegen haben wir vor ein paar Jahren einen massiven Zaun um den Hof gebaut. Das ist ein zwei Meter hoher Maschendrahtzaun, einen halben Meter eingebuddelt und oben noch mit einer Stromlitze drauf. Damit können wir uns wenigstens einigermaßen schützen. Der Hof, wo die Ställe sind, und auch die Weiden, wo die Pferde im Winter auch draußen am Tag ein paar Stunden laufen, ist eingezäunt. Aber die anderen Weiden, die außerhalb liegen, kann man nicht einzäunen. Wenn man morgens hinfährt im Sommer, hofft man, dass kein Tier von einem Wolf verletzt wurde.