Palast der Erinnerungen

Roman | Paul Auster: Baumgartner

Das häufig wiederkehrende Motiv des Verschwindens variiert Paul Auster in seinem aktuellen Roman um neue Facetten. Baumgartner durchläuft alle Phasen von Abwesenheit und Verlust, Trauer und Trost, Gedenken und Vergessen. Wie kann man nach dem Tod eines geliebten Partners weiterleben? Vielleicht sind einige metaphysische Momente im Spiel, in dieser schwebenden »Zwischenzeit verlorener Orientierung und irrationaler Anwandlungen«. Von INGEBORG JAISER

Nach 30 Büchern, die in über 40 Sprachen übersetzt worden sind, und einer erst in diesem Frühjahr publik gewordenen Krebserkrankung ist es ruhiger um den amerikanischen Schriftsteller Paul Auster geworden. Nach seinem gewichtigen, über 1200 Seiten umfassenden letzten Mammutwerk 4 3 2 1 ist nun der von Austers Ehefrau Siri Hustvedt bescheiden angekündigte »kleine Roman« erschienen – übrigens fast zeitgleich im englischen Original wie in der deutschen Übersetzung, als ob keine Verzögerung hinnehmbar wäre.

Dabei stellt sich dieser vermeintlich kleine Roman den großen Fragen des Lebens – aus der Perspektive eines Mannes im fortgeschrittenen Alter. Ein bisschen schusselig und zerstreut wirkt er auf den ersten Blick, dieser Seymour Tecumseh Baumgartner, genannt Sy, ein 72jähriger, demnächst emeritierter Professor der Phänomenologie, dessen Gedankenwelt mit der Realität nicht immer kompatibel erscheint. Während seiner selbstvergessenen Arbeit an einem Kierkegaard-Essay gerät er in eine geradezu slapstickhafte Abfolge von Ereignissen, die ihn neben Vergesslichkeit, Verbrühungen und einem Treppensturz in jene missliche Lage manövrieren, die nur durch nachsichtige Ironie ertragen werden kann. Ist es schon so weit, dass ihn diese Verkettung von Missgeschicken zu einem »sabbelnden, sabbernden Idioten machen wird, reif für den Gnadenschuss«?

Im Haus der letzten Dinge

Nach diesem polternden, temporeichen Entrée schlägt die Geschichte deutlich leisere Töne an. Wir lernen einen feinsinnigen, immer noch trauernden Witwer kennen, dessen Frau vor fast 10 Jahren bei einem tragischen Badeunfall ums Leben gekommen ist. Auf symbiotische Weise hat das Ehepaar dem Haus in Princeton ein gemeinsames Leben eingehaucht, geprägt von Literatur und Lehre, vom Schreiben und Publizieren. Erst nach langer Zeit wagt Baumgartner es, das Arbeitszimmer seiner verstorbenen Frau zu betreten, die Schubladen ihrer Schränke zu inspizieren und unveröffentlichte Texte zu lesen. Hier öffnet sich unversehens eine virtuelle Falltür und der Leser stürzt überraschend, doch nicht ohne ein gewisses Amüsement, in eine andere Dimension: hinab in den vertrauten, labyrinthischen Auster-Kosmos.

Baumgartners Frau hieß Anna – Anna Blume, wie die Protagonistin aus Paul Austers zweitem Roman Im Land der letzten Dinge (1989). Und die verstorbene Anna hegte wohlbekannte Vorlieben, wie eine Wiedergängerin früherer Figuren: die brennende Leidenschaft für Baseball, ein Hang zu alten Filmen aus den 30er- und 40er- Jahren. Als das längst abgemeldete rote Telefon in ihrem Zimmer gerade dann wieder läutet, als sich Baumgartner traumwandlerisch durch alte Texte und aufflackernde Erinnerungen wühlt, könnte sich ein magisches Fenster in die Vergangenheit auftun. Doch am Ende reißt die Verbindung ab.

Nicht mit ihr und nicht ohne sie

Wie ein Resümee vergangener Werke wirkt dieser Roman, wie eine verblassende Rückschau, ein »Streifzug durch den Palast der Erinnerung«. Baumgartner verkörpert treffend eine Lebensphase, in der melancholische Rückblicke einen breiteren Raum einnehmen als die Vorfreude auf noch Kommendes. Denn »ist man erst mal in dieser Zone schrumpfender Perspektiven angekommen, muss man mit allem rechnen.« Auch ohne detaillierte Kenntnisse um Paul Austers Vita dürfte der Leser in Baumgartner einen engen Wesensverwandten, wenn nicht gar ein Alter Ego des Autors erkennen. Nur ein paar Jahre jünger ist dieser Protagonist, ebenso als Nachfahre osteuropäischer Einwanderer in Newark geboren, mit prägenden Aufenthalten in Paris und einem akademischen Leben in Princeton, mit einer tiefen intellektuellen und emotionalen Verbundenheit zu einer gleichgesinnten Ehepartnerin.

Baumgartner ist ein berührender, zuweilen schmerzlicher, doch trotz wehmütiger Anklänge tröstlicher Roman um Trauer, Liebe und ein inniges Zusammengehörigkeitsgefühl über den Tod hinaus. Vor dem Hintergrund von Austers Erkrankung nehmen die Gedanken über Alter und Hinfälligkeit eine neue Wahrheit an. Und die Vergangenheit erscheint in verändertem Licht, auch wenn man sich fragt, »warum manche flüchtigen, zufälligen Augenblicke im Gedächtnis haften bleiben, während andere, vermeintlich wichtigere Augenblicke für immer verschwinden.«

| INGEBORG JAISER

Titelangaben
Paul Auster: Baumgartner
Aus dem Englischen von Werner Schmitz
Reinbek: Rowohlt 2023
203 Seiten. 22 Euro
| Erwerben Sie diesen Band portofrei bei Osiander

Reinschauen
| Leseprobe
| Mehr zu Paul Auster in TITEL kulturmagazin

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Ein Freundebuch

Nächster Artikel

Am Straßenrand der Geschichte

Weitere Artikel der Kategorie »Roman«

Hella wird’s nicht

Roman | Ronja von Rönne: Ende in Sicht

Nach oft selbstverliebten Selbstdarstellungen zwischen Pose und Provokation wagt sich die Berliner Schriftstellerin und Journalistin Ronja von Rönne in ihrem zweiten Roman an ein eher ernstes Thema, auch wenn hinter der Tragik viel Komik aufblitzt. Denn angesichts all der Umwege und Hindernisse ist für die beiden lebensmüden Protagonistinnen lange noch kein Ende in Sicht. Von INGEBORG JAISER

Eine Geschichte des Leidens, Sterbens und Überlebens

Roman | Ronya Othmann: Vierundsiebzig

Wer kennt schon die Jesiden? Kaum jemand. In ihrem ebenso einzig- wie großartigen Roman ›Vierundsiebzig‹ erzählt Ronya Othmann jetzt von der Geschichte dieses Volkes, das zugleich eine eigene Religionsgemeinschaft ist; davon, wie die Angehörigen dieses Volkes (in ihrer Selbstbezeichnung Êzîden) in der Diaspora leben müssen. Der Roman erzählt vom »Ferman«, wie die Jesiden die an ihnen begangenen Pogrome bezeichnen. 73 Fermane hatte es bis 2014 bereits gegeben. Dann kam Nummer 74. Fanatiker des »Islamischen Staats« (IS) überfielen am 3. August das jesidische Dorf Kotscho im nordirakischen Sindschar-Gebiet. Die Vereinten Nationen stuften das Massenverbrechen als Genozid ein. Im Januar 2023 tat das auch der Deutsche Bundestag. Doch nicht nur darum sind Ronya Othmanns großem Roman zahlreiche Leser zu wünschen – sondern auch, weil für die Autorin der Ferman weit mehr ist als ein politisch-historisches Verbrechen. Denn Ronya Othmann stammt selbst aus einer jesidischen Familie. Von DIETER KALTWASSER

Marokkanische Scharade

Roman | Martin Suter: Melody

Verunglückt, ermordet, verschleppt oder einfach nur untergetaucht? Welches Schicksal ist der vor 40 Jahren spurlos verschwundenen jungen Frau namens Melody widerfahren? Und wie weit ist den smarten Geschichten ihres ehemaligen Verlobten zu trauen? In der vornehmen Zürcher Upper Class beginnt Martin Suters neuer Roman, der den Leser gleich mehrfach hinters Licht führen wird. Von INGEBORG JAISER

Die ewige Gegenwart

Menschen | Roman ›Die Tänzerin‹ – zum 80. Geburtstag von Patrick Modiano

Als dem Franzosen Patrick Modiano vor elf Jahren etwas überraschend der Nobelpreis für Literatur zugesprochen wurde, hatte die Stockholmer Akademie ihn gerühmt »für die Kunst des Erinnerns, mit der er die unbegreiflichsten menschlichen Schicksale wachgerufen und die Lebenswelt während der deutschen Besatzung sichtbar gemacht hat.« Von PETER MOHR

Das Vergehen der Zeit

Roman | Gregor Sander: Alles richtig gemacht »Es interessiert mich beim Erzählen: das Vergehen von Zeit. Und was es mit Menschen macht«, bekundete der 51-jährige Schriftsteller Gregor Sander kürzlich in einem Interview über seinen nun erschienenen dritten Roman. Nach einer Schlosserlehre hatte er zunächst in Rostock Medizin studiert und war dann (wie seine Protagonisten) nach Berlin gezogen und zur Germanistik und Philosophie gewechselt. PETER MOHR über Gregor Sanders neuen Roman ›Alles richtig gemacht‹