Lite Ratur | Wolf Senff: Begegnungen
Er hatte die unangenehmen Zeitgenossen ausnahmslos abgewimmelt, oder? So viele waren es nun auch wieder nicht gewesen, aber finde sich mal einer zurecht in dem herrschenden Durcheinander. Immer mal wieder kam einer an in heller Verzweiflung und wollte sich auf seine Fähre flüchten. Bestechung? Nein, kein Gedanke daran, die Bräuche der Sterblichen waren hier unbekannt, er würde niemanden übersetzen, dessen Zeit nicht gekommen war.
Und wie geht man nun mit so einem Exemplar um? Nach den Maßstäben der Sterblichen ein honoriger Mann, siebzehneinhalb Millionen Euro Jahresverdienst im Jahr 2012, doch das sollte seine Sorge nicht sein.
Automobilbranche. Hält einen Sitz im Aufsichtsrat von Bayern München, wo er auf Franz Beckenbauer trifft und andere derselben Couleur. Er zählt sich zur crême de la crême der Management-Elite, die Zahl seiner Auszeichnungen kannst du mit den Fingern deiner Hände nicht abzählen. Ehrenprofessur der Tongji-Universität Shanghai, Mitglied der ›Atlantik-Brücke‹ etc., nur vom Feinsten.
Nein, sagte sich Charon, so jemand hatte auf seinem Floß nichts verloren. Die Passage über die Lethe wäre für solch einen Kerl befreiend, kein Zweifel, denn alles, was ihn belastete, wäre dem Reich des Vergessens übereignet. Gut, Demenz griff gelegentlich über auf das Reich der Sterblichen, das kam schon mal vor. Aber wer unter den Sterblichen weilte, hatte keine Chance auf diese Passage, der sollte auslöffeln, sagte sich Charon, was er sich eingebrockt hatte, Knast wirkt Wunder bei diesen Verbrechern, auch in geringer Dosierung.
Dass einer draußen Nadelstreifen trug und erlesenes Tuch, half ihm hier nicht, keinen Zentimeter, Fahrkarten wurden keine vergeben. Die Fähre war aus Schilfrohr geflochten, ein Leichtgewicht, sie transportierte eh nur Schatten, die am anderen Ufer schließlich ihren Frieden im ewigen Dunkel finden würden. Charon steuerte diese Fähre seit einer Ewigkeit über den Fluss, er hatte weder Ahnung, was ihn davor beschäftigt hatte, noch erinnerte er sich an seine Jugend, es muss sie ja einst gegeben haben, doch er war alterslos geworden, herausgelöst aus der Zeit.
Man erlebte man nicht alle Tage, dass einer so komplett, so mir nichts, dir nichts abstürzte. Sicher, manchmal blieben dunkle Machenschaften ein Leben lang im Verborgenen, das kam vor. Der vornehme Sterbliche präsentiert sich gern in einer weißen Weste, über alles andere redete einer nicht öffentlich. Aber hatte es nicht einst Regeln gegeben, dass ein tiefer Sturz kathartische Effekte hatte?
Darauf kam es nicht an in einer Welt, in der das ›Too big to fail‹ neue Maßstäbe setzte. Die Menschen hatten sich verändert, ungerührt strichen sie Millionen ein, ohne dass sie einen Gedanken daran verschwendeten. Das Geld hatte nach ihnen gesucht, es fühlte sich zu Hause auf ihren Konten, so musste man es sehen. Nein, der Zustand der Welt, das war kein Thema für diese Leute.
Meine Güte, im hohen Alter, der Kerl ging auf die Siebzig, und da taten sich derartige Abgründe auf? Ein Leben lang nobel gelebt und nun das? Das war der Gesundheit wenig förderlich. Im Alter soll man auf seine Gesundheit achtgeben. Nach Lage der Dinge steckt eine Menge krimineller Energie hinter all dem, was er unter seiner Leitung hatte geschehen lassen.
Vorgeschriebene Grenzwerte für verschmutzende Abgase wurden nicht bloß ignoriert, sondern die Fahrzeuge waren mit voller Absicht so präpariert, dass die Kontrollinstrumente nicht wie vorgesehen arbeiten konnten, nur so wirst du Exportweltmeister.
Auch das war der Gesundheit nicht förderlich. Millionenfache Täuschung, staatliche Vorschriften wissentlich ignoriert. Charon stöhnte. Der Mensch schien nach neuen Dimensionen zu streben, nach unbekannten Ufern. War das Hochleistungsgesellschaft? Ihm konnte das gleichgültig sein. Doch wie man hörte, trat derartiges Gesindel reihenweise in der besseren Gesellschaft auf, in gepflegte Sprache und feines Tuch gekleidet.
Wer sich auf seinem Kahn einfand, hatte mit den alten Verhältnissen unwiderruflich abgeschlossen. Für ihn, Charon, war das eine beruhigende Erkenntnis. Im Reich der Sterblichen ging es drunter und drüber, es war nicht förderlich, dass er sich damit belastete.