Große Gefühle im Konjunktiv

Roman | Martin Walser: Ein sterbender Mann

»Der Unterschied zwischen Sina und dir ist, dass ich es leichter ertrage, von Sina nicht verstanden zu werden, als von dir«, resümiert Theo Schadt, die 72-jährige Hauptfigur aus Martin Walsers neuem Roman Ein sterbender Mann ihren waghalsigen und turbulenten Spagat zwischen zwei Frauen. Nach dem liebenden Mann (2008) erscheint nun also am heutigen Freitag der »sterbende Mann«. Von PETER MOHR

WalserWalser nimmt thematische Fäden aus seinen beiden letzten Büchern auf, den Umgang mit Alter und Tod, den er mal spielerisch leicht und mal tränenreich schwermütig inszeniert, und die Irrungen und Wirrungen, denen ältere Männer beim Aufblitzen einer späten Liebe ausgesetzt sind. Dem neuen Protagonisten Theo Schadt ergeht es ähnlich wie Walsers Goethe-Figur im Liebenden Mann und dem Regisseur Augustus Baum im letzten Roman Die Inszenierung (2013). Mit Baum verbindet Theo Schadt zudem noch eine lebensbedrohliche Erkrankung.

Jener Schadt war einst Unternehmer mit 41 Angestellten, der erfolgreich mit Patenten gehandelt und sich überdies auch Meriten als Sachbuchautor »Die Anleitung zum Lustigsein«) erworben hat. Seine Ehefrau Iris, die einmal als »wildes Gänseblümchen« bezeichnet wird, betreibt ein kleines Geschäft, in dem sie alles verkauft, was die Herzen von Tango-Enthusiasten schneller schlagen lässt.

Der Mann, der Schadt in den geschäftlichen Ruin getrieben und damit für die erste harte Zäsur im Leben gesorgt hat, ist Carlos Kroll, der 19 Jahre Theos Partner war, ihn dann aber an die Konkurrenz verraten hat. »Außer Kraft gesetzt sind Treu und Glauben. Anstand, ein Witz«, beschreibt Schadt seine Gefühlsgemengelage nach dem schlimmen Vertrauensbruch des langjährigen Freundes, der überdies auch noch als Lyriker reüssierte.

Humorvoll, geistreich und mit spürbarer Freude macht sich Martin Walser über Krolls preisgekrönte Lyrik lustig, über bühnenreife Lesungen und Laudatoren, die wohlklingenden Nonsens mit großem Pathos vortragen. »Die Gedichte seien genauso einladend wie abweisend«, heißt es über die gelobten Lyrikbändchen mit den Titeln »Lichtdicht«, »Leichtlos« und »SeinsRiss«. Der unnahbare Carlos Kroll, »dem ein Imperium à la Stefan George vorschwebte«, verstand das Metier der Selbstinszenierung und forcierte sein Image als Elfenbeinturm-Dichter: »Ich weiß, warum ich nicht verstanden sein will.«

Theo lebt sich indes als Folge des sozialen Abstiegs und der tief sitzenden menschlichen Enttäuschung in eine handfeste Depression hinein: »Der Verrat hat mich entwürdigt. Es ist fast nichts übrig geblieben, was Leben heißen könnte.« Mit dieser bitteren Einsicht meldet sich Schadt als »Franz von M« in einem Internet-Forum für Selbstmordkandidaten an. Der Gedankenaustausch im Forum liest sich einerseits höchst amüsant, aber das Lachen gefriert – in Kenntnis der impliziten Tragik – rasant im Gesicht und lässt uns förmlich erstarren. Der Suizid wird als Selbstverwirklichung gefeiert, von »Trostlosigkeitsglanz« ist die Rede und dass man »die Tücken des Überlebensdrangs nicht unterschätzen« soll.

Für die zweite harte Zäsur in Schadts Leben sorgt die flüchtige Begegnung mit der deutlich jüngeren Tango-Tänzerin Sina Baldauf (»ich fühle mich getroffen durch ihre Augen«) im Geschäft seiner Frau Iris. Weite Strecken der Handlung hat Martin Walser nach dem klassischen Muster eines Briefromans arrangiert – Rede und Gegenrede im Internet-Forum oder aber in direkter Korrespondenz per Mail oder Brief. Dabei hat er ganz geschickt ein intellektuell reizvolles Spiel mit verschiedenen Identitäten inszeniert. Theo korrespondiert direkt mit Sina und im Internet-Forum unter seinem Nickname »Franz von M« mit einer gewissen »Aster«, einer Frau mit »irreversiblem Todeswunsch«, hinter der sich (das war schon früh zu vermuten, wird aber von Walser erst im letzten Viertel des Romans aufgelöst) eben auch die angebetete Sina Baldauf verbirgt.

Zwei »Suizidale« öffnen sich schriftlich bis zur Selbstentblößung, entfachen dabei gegenseitig eine Achterbahnfahrt der Gefühle – zwischen Todessehnsucht und starken Endorphinausstößen pendelnd. Respektvoll und ehrfürchtig, ja beinahe demütig gehen die beiden in ihren unzähligen Korrespondenzen miteinander um. »Sie sind gewissermaßen ein Edel-Anbaggerer«, preist Sina Theos selbst auferlegte Zurückhaltung. Er fantasiert sich in einen Sina-Rausch hinein, ohne von der »Traumfrau« etwas zu fordern. Walser lässt seinen Protagonisten im Konjunktiv noch einmal eine intensive, aber höchst unkonventionelle Liebe erleben, der – man ahnt es beizeiten – kein glückliches Ende beschieden ist.

Carlos Kroll wird vergiftet aufgefunden, Theo muss kurz in Untersuchungshaft, dann folgt das ihn entlastende Geständnis einer Geliebten des Dichters. Er fasst in der Folge den Entschluss, eine lange aufgeschobene Operation durchführen zu lassen, erklärt dies seiner Ehefrau Iris, die es regungslos zur Kenntnis nimmt. Es folgt eine dramatische, emotionale 180-Grad-Kurve: Sina kündigt an, dass sie nicht mehr leben kann – und dann kommt es knüppeldick. Schwiegersohn Axel überbringt Theo die Nachricht von Iris‘ Tod – vermutlich Suizid. Im Forum erfährt er wenig später, dass Aster (Sina) es geschafft habe: »Holzkohle-Methode. Sie ist friedlich eingeschlafen.« Am Ende hält Theo, der die dringende Krebs-OP wieder abgesagt hat, Zwiesprache mit zwei toten Frauen – desillusioniert, geläutert und geschunden, wie ein Boxer nach einem KO-Schlag, der darauf wartet, dass aus seiner Ringecke das Handtuch zum Zeichen der Aufgabe geworfen wird.

Aber Theo steht allein auf weiter Flur: »Es gibt keine Stelle, wo Jungsein an Altsein rührt oder in Altsein übergeht. Es gibt nur den Sturz.« Eine aphoristisch zugespitzte, ernüchternde Lebensbilanz. Martin Walser ist ein wohl austarierter erzählerischer Balanceakt zwischen Tragik, Komik und ganz großen Gefühlen gelungen. Von wegen »sterbender Mann«, geschrieben (oder besser: komponiert) von einem äußerst vitalen und nach wie vor jugendlich streitlustigen Autor von fast 89 Jahren. Chapeau!

| PETER MOHR

Titelangaben
Martin Walser: Ein sterbender Mann
Reinbek: Rowohlt Verlag 2016
287 Seiten. 19,95 Euro
| Erwerben Sie dieses Buch bei Osiander

Reinschauen
| Leseprobe
| Das Dreizehnte Kapitel – mehr über Martin Walser in TITEL kulturmagazin

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

»Sein oder Nichtsein, das ist hier die Frage«

Nächster Artikel

ICE

Weitere Artikel der Kategorie »Roman«

Der gute Cop sucht nach dem guten Killer

Roman | Scott Thornley: Der gute Killer

Detective Superintendent Iain MacNeice bekommt es in Der gute Killer – dem zweiten ins Deutsche übersetzten Roman des kanadischen Autors Scott Thornley – mit einem Psychopathen zu tun, der seine Opfer nach dem Vorbild bekannter Gemälde arrangiert. Opfer, mit denen niemand Mitleid hat, weil sich der Täter offenbar Zeitgenossen für seine blutigen Arrangements aussucht, die ihm aufgrund ihres sich gegenüber anderen in der Öffentlichkeit äußernden unsympathischen Charakters aufgefallen sind. Als MacNeice endlich hinter das Geheimnis der verwirrenden Tatorte gekommen ist, beginnt der Mörder ein Spiel mit ihm und seinem Team, in dem er hofft, immer das kleine Stück voraus zu sein, welches ihm seiner letzten tödlichen Choreographie näher bringt. Das könnte fast gelingen, denn der Polizist hat sich zur gleichen Zeit noch um den Fall eines ermordeten Kollegen zu kümmern. Und auch der war alles andere als ein Gutmensch. Von DIETMAR JACOBSEN

Drogen per Drohnen

Roman | Zoë Beck: Die Lieferantin Elliot Johnson, von ihren Freunden Ellie genannt, versorgt das London der nahen Zukunft mit Drogen bester Qualität. Ihr Stoff, im Darknet bestellbar, wird per Hightech-Drohnen zum Kunden befördert. ›Die Lieferantin‹ bleibt dabei immer im Dunklen. Doch weil Ellies Geschäftsmodell den traditionellen Straßenvertrieb plötzlich uralt aussehen lässt, kommt Londons Unterwelt natürlich ins Grübeln. Drei Bosse verbünden sich, um die billigere und bessere Konkurrenz aus dem Feld zu schlagen. Als dann auch noch der Tod zweier Gangster die Szene in Unruhe stürzt, wird es auf den Straßen der englischen Metropole zunehmend unruhig. Von DIETMAR JACOBSEN

Sieben Storys über ein Gefühl

Roman | Jo Nesbø: Eifersucht

Eine Frau wartet auf den Killer, den sie selbst bezahlt hat. Ein Osloer Müllmann stößt auf die Spuren eines Mordes, den er begangen hat, an den er sich aber nicht erinnern kann. Ein bekannter Schriftsteller erfindet sich ein alternatives Leben. Ein Kommissar aus Athen versucht auf der griechischen Insel Kalymnos, hinter das Geheimnis zweier Brüder zu kommen. Die sieben Geschichten des norwegischen Bestseller-Autors Jo Nesbø drehen sich samt und sonders um das Gefühl, welches der für Nesbø untypisch schmale Band im Titel trägt: Eifersucht. Von DIETMAR JACOBSEN

Japan liegt an der Ostsee

Roman | Christoph Peters: Herr Yamashiro bevorzugt Kartoffeln Hatte der Autor Christoph Peters die Absicht, einen Roman über eine aussterbende Berufsgattung zu schreiben? Oder gibt er der Agentur für Arbeit Tipps für Berufsinformation einmal anders? Jedenfalls wählt Peters in seinem neuen Roman ›Herr Yamashiro bevorzugt Kartoffeln‹ – wie zuvor schon in ›Mitsukos Restaurant‹ (2009) – erneut ein kulturell etwas abseitiges Thema, den fast ein wenig marginal erscheinenden Beruf des japanischen Zen-Töpfers. Der Autor blickt dabei mit viel Humor auf diese alte fernöstliche Handwerkstradition, die sich ein deutscher Wandergeselle mit gewerkschaftlich erkämpften Rechten nicht freiwillig aussuchen würde. Was Peters uns in

Überall Zerrissenheit

Roman | Judith Kuckart: Dass man durch Belgien muss auf dem Weg zum Glück »Ich kenne die Sehnsucht nach dem kleinen Leben, aber auch nach den großen Dingen. Bei wichtigen Gefühlen, auch beim Heimatgefühl, verspürt man solche Zerrissenheit immer«, hatte die heute 56-jährige Autorin Judith Kuckart vor zwei Jahren in einem Interview erklärt und damit schon die seelischen »Befindlichkeiten« der meisten Figuren ihres neuen, bereits achten Romans vorweggenommen.Judith Kuckarts Roman Dass man durch Belgien muss auf dem Weg zum Glück rezensiert von PETER MOHR.