Mein Vater, das Monster

Roman | Amélie Nothomb: Ambivalenz

Zorn und Hass, Missgunst und Neid, Lüge und Verrat sind die Triebfedern, die Amélie Nothombs Romanfiguren zur Tat schreiten lassen – jenseits von moralischen Bedenken oder psychologischen Hintergründen. Ungebremst entwickelt sich Ambivalenz zur rache- und mordlüsternen Familientragödie nach antikem Vorbild. Von INGEBORG JAISER

Die junge Épicène vereint alle Eigenschaften, die man sich nur wünschen kann: Sie ist »anhänglich, hübsch, intelligent, lebendig und fröhlich.« Aber auch eine aufmerksame Beobachterin. Mit sezierendem Blick erkennt sie bereits im Alter von fünf Jahren, dass sie mit ihrem Vater nicht Liebe, sondern Hass verbindet. Aber sind ihre Eltern nicht auch ein merkwürdiges Paar? Hier die etwas naive, unterwürfige, unter Komplexen leidende Dominique, dort der jähzornige, unstete Claude, der für seine Tochter nur Blicke des Missmuts übrig hat. Was haben sich die Eltern nur dabei gedacht, ihr Kind ausgerechnet Épicène zu nennen – ein affektiert klingender, geschlechtsneutraler Vorname, den nur literaturaffine Eingeweihte aus einer Komödie des Shakespeare-Zeitgenossen Ben Jonson kennen dürften?

Symbolischer Suizid

Während sich Vater Claude mit verbissenem Ehrgeiz auf der Karriereleiter hocharbeitet und die Familie in ein angeseheneres Viertel auf der »richtigen« Seite der Seine umzieht, wirkt der extravagant klingende Vorname der Tochter wie ein Türöffner für die feine Gesellschaft. Doch indem er sich formal jeder Festlegung entzieht, suggeriert er auch Nichtvorhandensein, Ausklammerung. Die Gehässigkeit und Boshaftigkeit des Vaters treibt Épicène zur Verzweiflung. »Mein Vater ist ein Monster. Er hasst mich seit meiner Geburt. Er ermordet mich nicht, weil das gesetzlich verboten ist. Aber er erfindet andere Methoden mich zu töten.« Épicène flieht in die innere Emigration, begeht »einen symbolischen Suizid« – jedoch in der Gewissheit, dass ihre Zeit, ihr Einsatz noch kommen wird.

Die belgische Autorin Amélie Nothomb bewegt sich in ihrem aktuellen Roman in wohlbekannten Gefilden: Hass, Rache und Boshaftigkeit gehören zu ihren düsteren Lieblingsthemen.  Darüber hinaus ist die 1967 in Kobe geborene Diplomatentochter eine besessene Vielschreiberin. Nach eigenem Bekunden hat sie bereits über 100 Romane verfasst, wovon gut ein Drittel veröffentlicht wurde und bereits zwei Dutzend in deutscher Übertragung (meist durch die sehr erfahrene Übersetzerin Brigitte Große) bei Diogenes vorliegen. Doch kaum eines der Werke umfasst mehr als 200 Seiten, als ob die Themen nur angerissen und nie ganz ausgearbeitet würden.

Perfekte Intrigantin

In der eiskalt und bitterbös inszenierten Geschichte der Ambivalenz irritieren bisweilen pathetische Passagen, die hart am Kitsch entlang driften. »Als der Gott des Parfums sie umarmte und die alte Raffinesse von Russisch Leder ihr Werk tat, erkannte Dominique, dass ihre Haut der Sitz einer grenzenlosen Lust war.« Oder: »Doch Épicène bewahrte ihre Schreie im Herzen und legte sich aufs Bett, um zur Statue jener Lebenden zu werden, die sie gewesen war.« Trotz dieser Anflüge von Rührseligkeit will lange kein Mitgefühl oder gar Verständnis für die Protagonisten aufkommen, deren Verhalten undurchschaubar und seltsam entrückt wirkt.

Doch das heraufziehende Unheil kann nicht verdrängt werden – und mündet in einer unvorhergesehenen, perfiden Tat. »Ich wusste gar nicht, dass Du so eine perfekte Intrigantin bist«, rühmt Claude seine Tochter in einer hellsichtigen Minute. So bewegt sich die finstere Anmutung von Ambivalenz zwischen griechischer Tragödie und elisabethanischem Schauermärchen. Ein knapper, jedoch hochexplosiver Roman, dessen Spannung sich zum Ende hin entlädt wie ein kurzes, heftiges Sommergewitter.

| INGEBORG JAISER

Titelangaben
Amélie Nothomb: Ambivalenz
Aus dem Französischen von Brigitte Große
Zürich: Diogenes 2022
128 Seiten. 20 Euro
| Erwerben Sie diesen Band portofrei bei Osiander

Reinschauen
| Leseprobe

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Der Bechdel-Test

Nächster Artikel

Ein Lichtschimmer am Horizont

Weitere Artikel der Kategorie »Roman«

Eine wahre Heldin

Jugendbuch | Ann Petry: Harriet Tubman

Harriet Tubman wurde um 1820 in Maryland in einer fensterlosen Hütte auf der Brodas-Plantage als Araminta Ross, der Tochter von Harriet Greene und ihrem Ehemann Benjamin Ross geboren. Aus dem kleinen Mädchen wurde die wohl bekannteste Fluchthelferin der Underground Railroad. Eine wahre Geschichte, die nicht in Vergessenheit geraten sollte, findet ANDREA WANNER

Überrollt von der Macht der Menge

Roman | Juan Gabriel Vásquez: Wenn es an Licht fehlt

Obwohl ihn Nobelpreisträger Mario Vargas Llosa schon vor einigen Jahren hochgelobt hat und seine Romane schon in 16 Sprachen übersetzt worden sind, ist der kolumbianische Schriftsteller Juan Gabriel Vásquez hierzulande noch weitestgehend unbekannt. In deutscher Übersetzung waren zuvor der Roman Die Reputation (2016) und die Erzählungen Lieder für die Feuersbrunst (2021) erschienen. Sein neuer Roman Wenn es an Licht fehlt verknüpft eine Familiengeschichte mit der Weltpolitik – mit dem China während der Kulturrevolution und den politisch instabilen, von blutigen Kämpfen geprägten Verhältnissen in Kolumbien. Von PETER MOHR

Viktoria und die Brandstifter

Roman | James Gordon Farrell: Die Belagerung von Krishnapur In der aktuellen politischen Situation, in der eine Regierung Truppen aus einem bürgerkriegszerstörten Land abzieht, weil es dort nicht gewinnen kann und keine Mentalitäten ändern wird, mutet James Gordon Farrells erstmals 1973 erschienener Roman Die Belagerung von Krishnapur nahezu prophetisch an. Das Schicksal einer sich der Realität verweigernden Gesellschaft, die sich der Häme des Betrachters preisgibt und trotz Rettung tragisch zugrunde geht, ist weniger berührend als vielmehr verstörend. VIOLA STOCKER begibt sich ins Sanatorium der Zivilisation.

Eine Liebeserklärung an die Ewige Stadt

Roman | Pier Paolo Pasolini: Ragazzi di vita Klaus Wagenbach hat zum 50-jährigen Verlagsjubiläum letztes Jahr Pier Paolo Pasolinis Ragazzi di Vita in einer Neuauflage herausgebracht. – TITEL kulturmagazin gratuliert dem »Verlag mit der Tür nach Italien«. Von HUBERT HOLZMANN

Wenn alles zweimal geschieht

Roman | Peter Stamm: Die sanfte Gleichgültigkeit der Welt »Schreib eine Geschichte über mich«, lautete der zentrale Satz in Peter Stamms 1998 erschienenem und später verfilmtem Debütroman ›Agnes‹ (1998). Seitdem hat sich der 55-jährige Schweizer Autor immer wieder auf experimentelle Grenzgänge begeben und ein reizvolles Spiel mit der Meta-Literatur inszeniert. Spätestens mit seinem mehr als 100 000mal verkauften Roman ›An einem Tag wie diesem‹ (2006) hat sich Stamm in der ersten Reihe der deutschsprachigen Gegenwartsautoren etabliert. PETER MOHR hat seinen neuen Roman ›Die sanfte Gleichgültigkeit der Welt‹ gelesen.