/

Im Labyrinth aus alten Schatten

Krimi | Friedrich Ani: Der namenlose Tag. Ein Fall für Jakob Franck

Deutscher Krimipreis 2016

Friedrich Anis Kriminalromane sind in gewisser Weise einzigartig. Ob ihre Helden Tabor Süden, Polonius Fischer oder Jonas Vogel heißen – stets werfen sie sich mit ihrer ganzen Person in den aufzuklärenden Fall. Machen ein fremdes Dasein zum eigenen, um dessen Verschwiegenheiten und Geheimnissen auf die Spur zu kommen. Selbst führen diese Männer ein eremitisches, einsames Leben, auch wenn sie einmal verheiratet waren und Kinder haben. Das aber stärkt noch ihrer aller ausgeprägte Fähigkeit, sich in Menschen zu versetzen, die sich vor der Welt und ihren Nächsten verschlossen haben. Nun hat Ani seinen drei Serienhelden einen vierten hinzugesellt. Auch der Münchner Ex-Kommissar Jakob Franck lebt allein, von seiner Frau getrennt und umgeben von all den Toten, deren gewaltsames Ende er einst aufzuklären hatte. Der namenlose Tag gelesen von DIETMAR JACOBSEN

AniJakob Franck heißt der neue Serienheld von Friedrich Ani. Nach Tabor Süden, Polonius Fischer und Jonas Vogel ein weiterer jener seltsamen Kriminalisten oder Ex-Kriminalisten, die ihre Fälle, eingesponnen in die eigene Einsamkeit, intuitiv lösen, indem sie eine innere Bindung – »Gedankenfühligkeit« heißt das in Der namenloseTag – zu den Opfern herstellen, sich sozusagen hineindenken in das Gemisch von Schuld und Verhängnis, aus dem heraus die Taten geschehen.

Franck ist seit Kurzem pensioniert, geschieden und beziehungslos. Als Polizist bei der Münchner Mordkommission hat er seinen Kollegen immer die undankbare Aufgabe abgenommen, den Angehörigen gewaltsam aus dem Leben Geschiedener die Todesnachricht zu überbringen. Nun lebt er ein bescheidenes, unauffälliges Leben, spielt Online-Poker und wird von den Geistern der Vergangenheit, den vielen Toten, denen er in seiner beruflichen Laufbahn begegnete, heimgesucht.

Bis eines Tages ein Mann vor seiner Tür steht, der zwei Jahrzehnte früher erst seine Tochter und ein Jahr darauf seine Frau durch Suizid verlor. Ludwig Winther möchte, dass Franck noch einmal und nun privat ermittelt. Denn Esther, sein einziges Kind, behauptet der Witwer, wurde damals ermordet – und er gibt vor, auch zu wissen von wem.

Die Vergangenheit ist nicht vergangen

Frank erinnert sich noch gut an den Fall, obwohl der nicht in die Zuständigkeit seines Dezernats fiel. Aber er hat auf Wunsch eines Kollegen damals das Ehepaar Winther aufgesucht, um es über den Selbstmord seiner einzigen Tochter zu informieren. Angetroffen hat er freilich nur die Mutter und mit ihr eine Szene erlebt, über die er später mit niemandem mehr sprechen konnte. Ganze sieben Stunden lang hat er die schockierte Frau in den Armen gehalten, erst im Flur, dann in der Küche ihrer Wohnung. Sieben Stunden fast sprachlose Trauer und Fassungslosigkeit. Und doch musste Franck irgendwann loslassen. Dass sich die Frau ein Jahr später das Leben nahm, hat er nie verwunden, denn offensichtlich scheint es ihm nicht gelungen zu sein, ihr Trost zu geben, Mut zum Weiterleben nach der Katastrophe zu machen.

Also sucht Anis Held noch einmal all jene Personen auf, die Esther Winther kannten und vielleicht mehr wissen über den alten Fall, als sie damals zuzugeben bereit waren. Er geht den Vermutungen von Ludwig Winter nach, trifft sich mit der Schwester der Verstorbenen in Berlin, spricht mit ehemaligen Mitschülern Esthers und stößt dabei auf ein Geflecht von Schweigen, aus dem das Unheil einst entsprang und eine ganze Familie mit in den Abgrund riss. Nein, einen Mord kann er keinem der hinter der Hand schon vor 20 Jahren Verdächtigten nachweisen. Und doch tragen sie alle einen Teil der Schuld an der Tragödie. Durch Schweigen, wo Miteinanderreden angebracht und hilfreich gewesen wäre, Offenheit Aufklärung gebracht und Schlimmes verhindert hätte.

Gedankenfühligkeit

Der namenlose Tag ist ein großartiger Roman, ein Buch, wie es unter allen deutschen Krimi-Autoren nur der heute 57-jährige Ani schreiben konnte. Hart und realistisch, bewegend und von einer Traurigkeit getragen, die es dem Leser schwer macht, wieder in seine Realität jenseits der Literatur zurückzukehren. Kein Kriminalroman im landläufigen Sinne, sondern eine Reise an die Ränder – jene der Gesellschaft, jene des Lebens, jene der Menschlichkeit. Dorthin, wo es immer kalt ist, man mit dem Rücken zueinander steht und nicht einmal im Vergessen Rettung findet.

| DIETMAR JACOBSEN

Titelangaben
Friedrich Ani: Der namenlose Tag. Ein Fall für Jakob Franck
Berlin: Suhrkamp Verlag 2015
301 Seiten. 17,99 Euro
Erwerben Sie dieses Buch portofrei bei Osiander

Reinschauen
| Leseprobe
| Mehr von Friedrich Ani: Süden und die Schlüsselkinder

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Literatur – ein Spiel

Nächster Artikel

Holt den Fatman raus!

Weitere Artikel der Kategorie »Krimi«

Detektive sind wieder in

Roman | Lisa Sandlin: Ein Job für Delpha 14 Jahre hat Delpha Wade im Gefängnis von Gatesville/Texas gesessen. Und während dieser Zeit die Beatles, die Beach-Boys, die Supremes und Gott weiß noch welche Superband der goldenen sechziger Musikjahre verpasst. Nun ist sie wieder draußen und sucht einen Job. Man schreibt das Jahr 1973 und mithilfe ihres eifrigen Bewährungshelfers kommt Delpha in einem eben gegründeten Detektivbüro unter. Klar, dass da die Probleme nicht lange auf sich warten lassen. Von DIETMAR JACOBSEN

Aufgewühlte Wasser

Roman | Eva Björg Ægisdóttir: Verschwiegen

Elma ist nach Akranes zurückgekehrt. Nach dem Ende einer langjährigen Beziehung sucht die junge Kriminalpolizistin einen Neuanfang in ihrem Leben. Dafür scheint Akranes, wo es ruhiger zugeht als in Reykjavík, genau die richtige Umgebung zu sein. Doch schon kurz nach ihrer Ankunft erschüttert ein Tötungsverbrechen den Ort. Im Wasser vor dem alten Leuchtturm treibt eine tote Frau. Fieberhaft beginnen Elma und ihre neuen Kollegen Hörður und Sævar zu ermitteln. Und finden sich bald inmitten eines Falls, der weit in die Vergangenheit zurückreicht und in dem die Tote vom Leuchtturm nur die Spitze eines Eisbergs markiert. Von DIETMAR JACOBSEN

Ausgeträumt

Roman | John le Carré: Federball

Von George Smiley ist in John le Carrés neuem Roman Federball keine Rede mehr. Sein Ich-Erzähler, auch ein Spion, heißt Nat. Nach seinem letzten Auslandseinsatz zurückgekehrt ins Vereinigte Königreich, wird er auf einen Posten abgeschoben, auf dem kein Schaden mehr anzurichten ist. Genug Zeit, sich dem geliebten Badminton-Spiel zu widmen und sich auf ein Duell mit einem Mann einzulassen, der nur mit ihm, dem Vereinsmeister, den Schläger kreuzen will. Dass Edward Shannon mehr ist, als lediglich eine sportliche Herausforderung, kann Nat am Beginn seiner Bekanntschaft mit dem jungen Idealisten allerdings nicht ahnen. Von DIETMAR JACOBSEN

St.-Pauli-Nights

Krimi | Simone Buchholz: Blaue Nacht Als trinkfeste Staatsanwältin hat Chastity Riley in Simone Buchholz‘ Krimi Revolverherz (2008) einen brutalen Prostituiertenmörder auf dem Hamburger Kiez zur Strecke gebracht. Weil sie dabei nicht ganz regelkonform vorging und nebenbei auch noch ihren Vorgesetzten der Korruption überführte, hat man die unkonventionelle und beileibe nicht bei allen beliebte Halbamerikanerin danach vorsichtshalber zur Opferschutzbeauftragten gemacht. Als solche treffen wir sie nun wieder In Buchholz‘ aktuellem Buch Blaue Nacht. Doch weil zu jedem Opfer auch ein oder mehrere Täter gehören, stecken Chastity und ihre alten Freunde bald wieder bis zum Hals in Schwierigkeiten. Von DIETMAR JACOBSEN

Zwei Killer auf einen Streich

Roman | Stephen King: Kein Zurück

Kaum hat Privatdetektivin Holly Gibney ein vollkommen durchgeknalltes Professoren-Ehepaar unter Lebensgefahr zur Strecke gebracht – Holly (2023) –, wartet schon der nächste Fall auf die Frau, die ihrem Erfinder Stephen King in letzter Zeit immer mehr ans Herz zu wachsen scheint. Diesmal ruft ein juristisches Fehlurteil, das einen Mann für eine Tat, die er nicht begangen hat, ins Gefängnis schickt und dort umkommen lässt, einen Rächer auf den Plan. Trig, wie der sich von der ersten Seite an nennt, hat sich vorgenommen, 12 Unschuldige anstelle der 12 Geschworenen, deren Urteilsspruch das Leben eines Unschuldigen besiegelte, und jenen Staatsanwalt, der um der eigenen Karriere willen Beweisstücke unterdrückte und deshalb in Trigs Augen der Hauptschuldige ist, zu töten. Und als er loslegt, geschieht das in einem solchen Tempo, dass die Polizei kaum hinterherkommt. Aber Detective Izzy Jaynes hat ja noch ihre neue Freundin Holly Gibney. Und obwohl die gerade als Personenschützerin für eine prominente Feministin unterwegs ist, kann sie die Chance, sich an der Jagd auf einen gefährlichen Serienmörder zu beteiligen, nicht ausschlagen. Von DIETMAR JACOBSEN