/

So fremd, so vertraut

Gesellschaft | Christine Ax: Reise ins Land der untergehenden Sonne. Japans Weg in die Postwachstumsgesellschaft

Wir erhalten einen Einblick, wie viel anders eine Gesellschaft sein kann, die wir ohne viel nachzudenken zu den Industriegesellschaften zählen. Japan ist eine etablierte Industriegesellschaft im Kreis der G7 und der G20, und Christine Ax zeigt uns in ihrem schmalen Bändchen, welche besondere Stellung Japan im Kreis dieser Nationen einnimmt. Von WOLF SENFF

JapanAx hat umfassende Untersuchungen über ›Wachstumswahn‹ (2013) und über die ›Könnensgesellschaft‹ (2009) publiziert und befasst sich intensiv mit Wegen, die uns aus der Krise herausführen können. Das vorliegende Bändchen ist da anders und erfreulicherweise doch wieder nicht anders. Es ist privat, weil sie ihre Eindrücke und Gedanken an einen Aufenthalt in Japan knüpft, und ist angenehm informativ, weil sie ihre Überlegungen in einem jeweils konkreten Kontext formuliert, die Lektüre wird zum Vergnügen.

Glaubenssache

Japan ist eine Inselwelt, auf Distanz bedacht. Christine Ax nimmt dort eine zutiefst widersprüchliche Gesellschaft wahr: die überschäumenden Verkleidungsmanien, das Cosplay der Jugend, dann aber ein hochdiszipliniertes Berufsleben, das wichtiger ist als die eigene Familie. Nein, nicht Loyalität sei gefragt, sondern bedingungslose Gefolgschaft, und die stets zur Schau getragene ›public happiness‹ sei Selbstbetrug, Heuchelei.

Man wolle »technologisch an der Spitze« bleiben, doch Ax hält dieses Ziel für wenig realistisch zumal in einer Gesellschaft, in der es unhöflich sei, anderer Meinung zu sein und zu widersprechen. Im übrigen werde prognostiziert, dass die Bevölkerung bis 2060 von gegenwärtig 127 Millionen auf 86 Millionen abnehme – da von einem ökonomischen Wachstum auszugehen, ist für sie argumentativ nicht nachvollziehbar. In der Weigerung, sich mit den Grenzen des Wachstums auseinanderzusetzen, unterscheide sich Japan jedoch nicht von den übrigen Industrienationen.

Ein schillerndes Gesamtbild

Ax besucht ein automatisches Sushi-Restaurant, beim Aufenthalt in Kyoto lernt sie Gewohnheiten der Radfahrer kennen und gerät beim Einkaufsbummel in Tokyo in den Stress der »Perfektion, mit der alles inszeniert wird«, erlebt einen »Exzess an Niedlichkeit« sowie das allgegenwärtige »Schulmädchensyndrom«.

Ax referiert ein Gespräch über unterschiedliche Orientierungen der Jugend und über die Schwierigkeiten, die besonders Frauen erleben, wenn sie ihr Leben selbstständig gestalten wollen. Es gibt also viele Ähnlichkeiten. Man liest ein unterhaltsames, feines kleines Werk, das ein schillerndes Bild zeichnet von einer entfernten Industrienation, die sich uns dennoch ständig zum Vergleich aufdrängt, aber eben als ein »Land der untergehenden Sonne« und zum Lernen ex negativo.

| WOLF SENFF

Titelangaben
Christine Ax: Reise ins Land der untergehenden Sonne
Japans Weg in die Postwachstumsgesellschaft.
Solothurn: edition zeitpunkt, 2014
80 Seiten, 8 Euro
Erwerben Sie dieses Buch portofrei bei Osiander

Reinschauen
| Leseprobe

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Über das seltsame Gefühl in der Ratgeberecke

Nächster Artikel

Verwirrung total

Weitere Artikel der Kategorie »Gesellschaft«

Very British? No!

Gesellschaft |Owen Jones: Prolls Die Bank- & Börsenwacht an der Themse, die nazifixierte Presse, Anti-Europapolitiker, mal wieder vors Objektiv geratene sekundäre Geschlechtsmerkmale von royals – viel mehr ist aus unseren Medien kaum zu erfahren über das Vereinigte Königreich. Das hiesige Traditionsbild aus Miss Marple und Jack the Ripper, exzentrischen Schrullen und stiff upper lips bleibt ungestört. Owen Jones räumt damit gründlich auf. Sein Buch Prolls. Die Dämonisierung der Arbeiterklasse erzählt in Reportagen und Reflexionen, wie dieses Land heute tatsächlich tickt, nicht nur bei denen »da unten«. Von PIEKE BIERMANN

Eine Aktie auf das irdische Paradies erwerben

Ausstellung | ›Tattoo‹ – Ritual, Mode, Stigma (Museum für Kunst und Gewerbe Hamburg) Die Hamburger Ausstellung zeigt ein faszinierendes kulturgeschichtliches Panoptikum der menschlichen Hautzeichnung. SABINE MATTHES über die Kunst, die man auf dem Körper trägt.

Heil Boskop!

Gesellschaft | Front Deutscher Äpfel: Das Buch zur Bewegung Ein neues Buch rekapituliert die Geschichte der »Front deutscher Äpfel«, einer satirischen Organisation gegen Rechts. Gerade im momentanen Klima lohnt sich ein näherer Blick, findet JAN FISCHER.

Geschichte neu schreiben

Gesellschaft | Noam Chomsky: Die Herren der Welt Der in Philadelphia, Pennsylvania, geborene Noam Chomsky lebte sein erstes Leben als erfolgreicher und angesehener Sprachwissenschaftler der USA, er revidierte die traditionelle Grammatik von Grund auf. Durch den Vietnamkrieg wurde er zum Dissidenten. Er erwarb sich weltweites Ansehen, wurde in den USA mehrmals inhaftiert, zum ersten Mal 1967 anlässlich einer Demonstration gegen den Vietnamkrieg, und ist heute eine Leitfigur des Widerstands gegen die gedankenlose Fortsetzung herkömmlicher Politik. Von WOLF SENFF

Vorsicht vor Frauen und Schnaps

Gesellschaft | Leitfaden für britische Soldaten 1944 Spätestens seit die US-Regierung auf den 9/11-Terror mit Bombeneinfällen im Irak reagierte, kennt man auch im friedensverträumten Deutschland das Wort »Exit-Strategie«. Man sollte, besagt es, nicht irgendwo einfallen, wenn man nicht weiß, wie man wieder rauskommt. Das leuchtet selbst Zivilisten ein, ist aber nur der zweite Schritt. Der erste – für den zweiten unabdingbare – scheint in neuen »asymmetrischen« Kriegen fatalerweise wegtechnologisiert zu sein: Man sollte das Land, in das man einfällt, sehr gut kennen. Nicht nur die Geo- und Topographie samt Klima, sondern die Menschen und deren Geschichte, Kultur, Lebensart, Mentalität. Mit