Verwirrung total

Jugendbuch | Hayley Long: Sophie Soundso

Dass man zuweilen nicht weiß, wo man gerade steht im Leben, ist normal. Dass man nicht weiß, wer genau man ist, eher nicht. Die daraus resultierende Verwirrung wächst sich schnell zu einem fundamentalen Problem aus. Nicht zuletzt, wenn man davon erzählen will. Hayley Long führt ihren Leserinnen höchst unkonventionell totale Verwirrung vor. Von MAGALI HEISSLER

SophieSoundsoSophie hat immer geahnt, dass mit ihr und ihrer Familie etwas nicht stimmt. Aber den Finger darauflegen konnte sie nie. Ihre Erinnerungen an die frühe Kindheit sind wirr. Es gab eine lange Zugfahrt, seither lebt sie mit ihren Eltern in Brüssel. Fragt sie die Eltern, so hat ihr Vater eine plausible Erklärung für die Zugfahrt und das Leben in Brüssel. An dem Tag, als Sophie ihre Geburtsurkunde will, fällt die Erklärung etwas wackeliger aus. Trotzdem glaubt sie diese, schließlich liebt sie ihre Eltern. Und den kleinen Bruder, der sich inzwischen dazugesellt hat.

Aber Sophies innere Verwirrung wird nicht kleiner über die Jahre. Der Alltag, die Schule, die beste Freundin Comet, das ganze bunte internationale Leben in Brüssel helfen nicht darüber hinweg. Warum kommt ihr ihr eigener Name so fremd vor? Warum verlässt ihre Mutter nie die Wohnung? Wer ist der fremde Mann, der in der Werkstatt ihres Vaters auftaucht?
Diese Fragen beantworten die Eltern nicht. Sophie entschließt sich, die Familiengeschichte selbst unter die Lupe zu nehmen. Die Folgen sind erschreckend, nicht nur für eine Vierzehnjährige.

Vom Miteinander und vom über etwas sprechen

Long baut die Geschichte von Sophie mit besonderen sprachlichen Mitteln auf. Die Emotionen der jungen Protagonistin werden unmittelbar sichtbar gemacht in der Ausdrucksweise wie im Schriftbild. Sophie erzählt aus der Rückschau, sie ist bereits an einem Endpunkt angekommen, den die Leserin noch nicht kennt. Allerdings kann die Erzählerin nicht offen über das sprechen, was geschehen ist, zu nah, zu schmerzlich und zu fremd ist das noch. Auf den Rat der besten Freundin hin benutzt sie einen Code. Diese anderen Begriffe werden von Anfang an in den Text eingeführt, Substantive, Adjektive, Verben. Die fremden Elemente zeigen die Fremdheit eindrücklich, die die dunkle Vergangenheit in Sophies Leben darstellt. Sie muss die Vergangenheit erst kennenlernen, vertraut werden mit ihr. Gemessen an dem, was sie schließlich herausgefunden hat, fällt es ihr schwer, ihre Eltern Mama und Papa zu nennen. So werden sie zu Mamba und Poncho. Auch von sich spricht Sophie nicht als »Person«, sondern als »Pinie«. Noch ist sie nicht sicher, wer sie ist. Nur versteckt hinter einem eigenen Vokabular kann sie über das reden, was sie bedrückt.

Manchmal verstecken sich Hinweise in Namen, dem einer Klassenkameradin, etwa oder dem kleinen Bruder, Hercule Tintin. Wer aufmerksam liest, erkennt hier zwei berühmte Detektive. Anderes verbirgt sich in fremdsprachlichem Vokabular, Brüssel ist schließlich eine internationale Stadt.

Die Leserin ist gefordert, nicht nur Sophies Geschichte zu verstehen, sondern auch die Sprache, in der sie diese erzählt. Die Bedeutung, die es hat, über etwas zu sprechen und miteinander zu sprechen, bekommt hier ein neues Gewicht. Die Leserinnen machen also auf mehreren Ebenen neue Erfahrungen. Das ist großartig.

Spannend, sympathisch, herzlich

Es geht nicht nur um den Kopf – in Sophies Sprache »Kormoran« –, sondern auch um tiefe Gefühle. Spannung ergibt sich einmal aus der Handlung, die Long atemberaubend wiederzugeben weiß, zum anderen aus dem emotionalen Chaos. Wieder wird mit den Wörtern gearbeitet, in diesem Fall mit dem Druckbild. Wörter wachsen oder werden winzig klein, klettern über Absätze, fallen hinunter, eine Seite bleibt fast weiß. Schweigen herrscht.

Gefühle erzeugen auch der Figurenaufbau und die Darstellung der handelnden Personen. Wunderbar ist der Einfall mit den Glückskeksen der vietnamesischen Nachbarin. Die Sprüche sind voll verschmitzter Weisheit. Die Interaktion der Figuren ist überzeugend lebensecht, sogar wenn unvermutet jemand zum Engel mutiert. Sympathie zählt, das Miteinander, es ist ein rundum warmherziges Buch.

Niemand ist böse, es ist das falsche Handeln, das angeprangert wird, weil es Leid auslöst. Auch das Leid ist fühlbar, gleich, ob es Sophies Mamba betrifft, die sich in ihrem Unglück mit lautstarkem Rap hinter die verschlossene Schlafzimmertür verzieht oder Sophies beste Freundin Comet(sie heißt wirklich so!), deren Familie von einem Unglück ganz anderer Art getroffen wird.

Es ist überhaupt eine Stärke dieser beeindruckenden Geschichte für Jugendliche, dass sie eine nie vergessen lässt, dass ein Unglück nicht nur selten allein, sondern auch nie nur zu einer kommt. Auch andere leiden. Das eigene Leid darf einen nicht blind machen für das, was andere durchleben. Sophie muss auch damit fertig werden. Die Herausforderung an das junge Zielpublikum ist hoch und das gleich auf mehreren Ebenen.

Auf der hinteren Klappe des Schutzumschlags gibt es ein kleines Verzeichnis der Würmer, die Sophie häufig gebraucht, mit Übersetzung. Das hilft schon mal beim Einlesen. Glänzend übersetzt aus dem Englischen hat es Gabriele Haefs und trotz der im Kern ernsten und recht traurigen Geschichte muss man annehmen, dass die Suche nach dem richtigen Wurm nicht nur Mühe, sondern auch enormen Spaß bereitet hat.
Sophies spannende Geschichte und die faszinierende sprachliche Umsetzung kann man Leserinnen nur wärmstens ans Herz legen.

| MAGALI HEISSLER

Titelangaben
Hayley Long: Sophie Soundso
(2015 Sophie Someone, übers. von Gabriele Haefs)
Hamburg: Carlsen Verlag 2015
344 Seiten. 16,99 Euro
Jugendbuch ab 13 Jahren
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