/

Meer

Lite Ratur | Wolf Senff: Meer

Das Meer ist tief, besonders zur Mitte hin, sagt man, nur wer wüsste zu sagen, wo sich die Mitte des Meeres findet oder ob es überhaupt eine hat. Ich könnte im Wasser nicht leben, das Meer ist mir fremd, nein ich habe in meinem Leben nie geangelt, auch Freunde von mir angeln nicht, ich kenne das Angeln vom Hörensagen.

800px-Gray_whaleHering kenne ich als Rollmops, Karpfen von Silvester, den Barsch vom Filet. Grauwal. Einen Grauwal sah ich einmal im Meer. Vom Boot aus. Ich hatte mich deswegen auf die Bucht hinausfahren lassen. Du siehst selbstverständlich nicht den Grauwal, du siehst seinen Rücken neben dem Boot, wenn du aufmerksam hinsiehst, du streckst die Hand aus: Da! Ein Grauwal!

Weiter entfernt siehst du eine Fluke oder den Blas, nur das, doch du bist daran gewöhnt zu sagen, du hättest einen Grauwal gesehen, und wenn du nach Hause kommst, hast du Geschichten zu erzählen.

Eine Schillerlocke ist kein Fisch, nein, doch sie ist essbar. Das Meer ist eine fremde Welt. Meine Tochter machte ihr Seepferdchen, da war sie drei. Auch meiner Tochter war die Welt des Wassers fremd, sie blieb jahrelang ängstlich, ich verstand sie gut, was sind das für merkwürdige Lebewesen und wie kann man überleben, ohne sich an der frischen Luft aufzuhalten, wer lange im Wasser liegt, trägt schwere Hirnschäden davon. Wie geht das zusammen.

Blau ist allerdings eine angenehme Farbe, es existieren Fotos, auf denen der Planet eine blaue Farbe hat, auch wenn es regnet, ja, das ist nicht leicht zu verstehen, und sogar von oben kann der Himmel Himmel sein. Er ist nicht immer blau? Er wird immerhin blau gewesen sein, als die Aufnahmen gemacht wurden. Das ist alles nicht leicht zu verstehen.

Wenn es regnet, hat der Himmel eine graue Farbe, anthrazit. Die ganze Welt ist plötzlich trist. Aber man kann am Meer spazieren gehen. Wenn es regnet, wird es ziemlich gleichgültig, wo du spazieren gehst, doch das Meer ist ein geeigneter Ort, um bei Regen spazieren zu gehen, du musst wasserdichte Kleidung tragen, mit Gummistiefeln kannst du nichts falsch machen.

Das Meer ist ebenfalls grau, wenn es regnet, und man fragt sich, weshalb auch der Himmel seine blaue Farbe verlor, wo steckt sie. Du siehst die Regentropfen aufschlagen, aber du hörst sie nicht, weil das Rauschen der Wogen sie übertönt, und vielleicht kreischen einige Möven direkt in das Rauschen hinein, Möven sind unüberhörbar.

Du kannst dich nicht verlaufen am Meer, deshalb musst du darüber nicht nachdenken, keine Sorge, du gehst schnurstracks am Wasser entlang, drüben führt alle hundert Meter ein Weg in die Dünen. Manch einer würde mitzählen, um auf dem Rückweg den richtigen Ausweg nicht zu verpassen, aber es ist besser, du prägst dir eine Besonderheit ein, an der du dich nachher orientieren wirst.

Am Wasser ist es einsam, das Branden der Wellen ist anfangs ein fremdes Geräusch. Nein, es ist kein zielloses Gehen, keinesweg, ist es nicht. Du gehst am Wasser entlang, deine Gedanken schweifen, du denkst an alles mögliche. Weit draußen, kurz vor dem Horizont, zieht ein Frachter seiner Wege, dein Blick fällt auf Schaumkämme, die sich zum Strand hin verlieren.

Bei Regen ist der Strand menschenleer, der Regen nimmt zu, die Dünen verschwimmen. Dein Gehen fühlt sich anders an, so als kämst du nicht vom Fleck, nicht einen Meter, und von vorn peitscht Sturm, meine Güte, was für ein Tag, wäre es nicht Zeit umzukehren, der Himmel ist wolkenverhangen, der Frachter hat sich in Luft aufgelöst.

Du hältst dich strikt an das Wasser, einmal stehst du auf einer schmalen Sandbank und bist erleichtert, Stiefel angezogen zu haben, du gehst einige Schritte knöcheltief durchs Wasser. Nein, du kannst dich am Meer nicht verlaufen, du trägst wetterfeste Kleidung, bist bestens vorbereitet für deinen Spaziergang am Meer, es gibt keinen Grund, ihn abzubrechen, der Regen wird nicht endlos dauern, kein Regen dauert endlos, da hat es nicht gegeben.

| WOLF SENFF

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Ticket To My Heart: An Interview With Masha Qrella

Nächster Artikel

Zeitreise

Weitere Artikel der Kategorie »Kurzprosa«

Beste Aussichten

Literaturkalender 2023

»Ein Kalender ist ein Jahr, das man auf Vorrat kauft,« wusste schon Inge Meysel. Und auch ein literarisches Depot kann uns jene Rationen an Halt, Hoffnung und Zuversicht schenken, aus denen sich täglich neue Kraft schöpfen lässt. Inspiration für kommende Lektüren gibt es obendrein. INGEBORG JAISER hat mit Vergnügen durch Literaturkalender für das neue Jahr geblättert.

Reisen mit leichtem Gepäck

Kurzprosa | Deborah Levy: Black Vodka Verkrüppelte Dichter, heimatlose Kosmopoliten und aus der Spur geratene Nervenbündel bevölkern die meisterhaft lakonischen Erzählungen von Deborah Levy. ›Black Vodka‹ verkörpert nicht nur ein neuartiges Getränk, sondern den provozierenden Beigeschmack der Fremdartigkeit. Von INGEBORG JAISER

Entscheidung

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Entscheidung

Ob es nicht an der Zeit wäre, fragte der Ausguck, wieder auf Walfang zu gehen.

Die anderen nickten.

Höchste Zeit, bekräftigte London.

Wie lange hatten sie ausgesetzt, überlegte Harmat, sechs Tage?

Die Tage würden ihm lang, die Untätigkeit setze ihm zu, erklärte Bildoon.

Ob die Blessuren vom ersten Fangtag denn ausgeheilt seien, fragte Pirelli.

Alles kuriert bis auf Eldins Schulter, sagte Crockeye.

Eldin schwieg.

Der jugendliche Camus

Menschen | Abel Paul Pitous: Mon cher Albert Wird Albert Camus noch gelesen? Die Pest? Camus stand stets im Schatten von Jean Paul Sartre. Oh, sie begründeten die Tradition der schwarzen Rollkragenpullover, dafür sei beiden gedankt, Camus kam leider früh zu Tode. Der hier veröffentlichte Brief fand sich im Nachlass des 2005 verstorbenen Abel Paul Pitou, eines Jugendfreundes von Camus, und wurde 2013 von dessen Sohn zur Veröffentlichung gegeben – die unscheinbarsten Manuskripte erreichen die Welt auf den kompliziertesten Pfaden. Pitous und Camus spielten in diversen Schulmannschaften gemeinsam Fußball, das verleiht dem Text spezielle Würze in diesem Jahr der Fußball-Weltmeisterschaft.

Lebensgefährlich

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Lebensgefährlich

Ob das schwer zu verstehen sei.

Gut gefragt, Farb.

Doch sei das nicht jedem bekannt.
Das sollte man annehmen.