/

Stimmungen und Empfindungen

Kurzprosa | Patrick Modiano: Schlafende Erinnerungen

»Es geht in meinen Büchern überhaupt nicht um mein eigenes Leben. Ich benutze nur Empfindungen, die ich gehabt habe, und Stimmungen, in denen ich gelebt habe«, bekannte Patrick Modiano, Nobelpreisträger des Jahres 2014, in einem seiner wenigen Interviews. Und doch schreibt der inzwischen 73-jährige französische Autor, für dessen umfangreiches Werk Paris mindestens ebenso wichtig ist, wie es Köln einst für Heinrich Böll war, stets sanft an seinem eigenen (Er)-Leben entlang. Von PETER MOHR

Schlafende ErinnerungenSein Protagonist ist wieder einmal Jean D., der als gealterter Autor von 70 Jahren zurück blickt auf seine Jugendjahre, als er relativ unbeschwert durch das Paris der 1960er Jahre flanierte. »Es handelt sich um Episoden eines geträumten, zeitlosen Lebens, die ich Seite um Seite dem trüben Alltagsleben entreiße«, hieß es im 2014 erschienenen Roman Gräser der Nacht – und genau dort setzt auch das neue schmale (wieder deutlich autobiografische) Bändchen an.

Bei Patrick Modiano gibt es keine Erzählebene in der Gegenwart, bei ihm ist der Blick stets in die Vergangenheit gerichtet und das Stockholmer Nobelpreiskomitee hatte in seiner Begründung treffend Modianos »Kunst des Erinnerns« gerühmt. Kindheit und Jugend in Paris sind eine offensichtlich nie versiegende Quelle für seine Kunst.

Wie schon im Vorgängerwerk Gräser in der Nacht, als der Tod eines marokkanischen Exilpolitikers in die Handlung eingeflochten wurde, hat Modiano seinem Text (wohl bedacht ohne Genrebezeichnung erschienen) im letzten Drittel wieder sanfte Krimi-Anklänge verliehen. Aber bis dahin schickt er seine Hauptfigur an der Seite von mehr oder weniger skurrilen Frauen durch die Seine-Metropole.

Ob Mireille Ourosov, Geneviève Dalame, Madeleine Péraud oder Martine Hayward: Sie haben alle eine große Affinität zur geheimnisvollen Welt des Spiritualismus. Und der junge Jean D., der sich als extrem kopflastiger 20-jähriger Jüngling Nietzsches »Die Ewige Wiederkehr des Gleichen« gekauft hatte, zeigt sich sehr empfänglich für die weiblich-esoterischen Einflüsse.

Modianos sensibel-zarte Erinnerungsprosa ist absolut singulär. Mit so wenig Worten und ohne jedes Pathos eine so fühlbare, so intensiv-erlebbare Atmosphäre aufs Papier zu zaubern, das ist ganz große Kunst.

Zum Ende gewinnt der Text sogar noch an Tempo. Von einer rätselhaft gezeichneten, namenlosen Frau wird die Hauptfigur zu einer Leiche (Unfall oder Mord?) geführt, muss fortan untertauchen und bekommt noch eine Schusswaffe zugesteckt. »Ich verspürte eine Ruhe und eine Besänftigung, wie ich sie bisher nie erlebt hatte«, entfährt es dem Protagonisten, als er am »Tatort« war und er vom Concierge des Hauses durchdringend gemustert worden war.

Das ist typisch Modiano: Er lässt die Handlung ins Irrationale kippen, nicht Hektik oder Panik, sondern Ruhe und Gelassenheit dominieren die Szenerie nach dem »Schockerlebnis«. Die Gefühlswelt scheint Kopf zu stehen, der Pulsschlag der Handlung wird wieder heruntergefahren.

Es sind »nur« Erinnerungsfragmente, die uns Modiano vorlegt und die sich nicht zu einem harmonischen Ganzen fügen wollen. Vielleicht schreibt er fortwährend – in diversen Variationen – nur an einem einzigen Endlos-Roman. Hat man aber einmal Feuer gefangen, ist man immer wieder von der Leichtigkeit dieser Prosa fasziniert. Ähnlich ergeht es mit den (immer gleichen) Genazino-Romanen und deren neurotischen Großstadtflaneuren.

»In deinen Erinnerungen vermischen sich Bilder von Straßen, auf denen du gefahren bist, und du weißt nicht mehr, welche Provinz sie durchquerten«, lautet der letzte Satz. Es ist eine Gedankenreise ins Fremde, eine literarische Erkundung des Ichs, eine anstrengende Expedition durchs eigene Seelenleben der Jugend, ein Aufwecken der (schlafenden) Erinnerungen an die von Modiano mit honigsüßem Zuckerguss patinierten 1960er Jahre in Paris.

| PETER MOHR

Titelangaben
Patrick Modiano: Schlafende Erinnerungen
Aus dem Französischen von Elisabeth Edl
München: Carl Hanser Verlag 2018
111 Seiten, 16 Euro
| Erwerben Sie dieses Buch portofrei bei Osiander

Reinschauen
| Leseprobe
| Sibylle Luithlen über Patrick Modiano in TITEL kulturmagazin

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Durch 5000 Jahre im Schweinsgalopp

Nächster Artikel

Vom allmählichen Verschwinden eines Menschen aus der Welt

Weitere Artikel der Kategorie »Kurzprosa«

Schwermut

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Schwermut

Die Worte wechseln, doch real ändere sich null, ob nun Trübsinn, ob Weltschmerz, ob Melancholie.

Seit mehreren Jahrzehnten behaupte sich Depression, gelegentlich auch burn out, doch burn out, so werde erklärt, sei graduell anders gewichtet, und letztlich wisse niemand Bescheid, unter welchem Namen auch immer.

Auf den einzelnen Fall komme es an, laute eine Standardfloskel, die Beziehung zwischen Arzt und Patient müsse stimmen, manch einer suche jahrelang nach einem passenden Psychiater und Therapeuten, und eine einheitliche Symptomreihe, die lediglich abzuhaken wäre, die gäbe es nicht.

Abstiegskampf

Lite Ratur | Wolf Senff: Abstiegskampf Krähe, lass mich erzählen. Nein, Fußballfan bin ich nicht. Sei mal still. Dass ich samstagsnachmittags Bundesligakonferenz höre, ist mir zur Gewohnheit geworden; so sehr, dass ich’s an spielfreien Wochenenden vermisse, wie man eben eine vertraute Gewohnheit vermisst. Zwei-, dreimal in den letzten Jahren war ich im Stadion, bei St. Pauli, klar, zum HSV, nein, dazu lieber kein Wort. Von WOLF SENFF

Hölle

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Hölle

Man wird nichts tun können.

Das ist kein guter Anfang, Tilman.

Die Symptome sind vielfältig, und es ist unsere Welt, die leidet, ausnahmslos leidet, Farb, jeden Gedanken an Schonräume kannst du vergessen, nein, vorbei, da ist nichts, kein Schutzzaun, nirgends.

Tilman rückte näher an den Couchtisch und suchte eine schmerzfreie Sitzhaltung einzunehmen.

Das Service mit dem Drachenmotiv war aufgedeckt, rostrot, Farb tat sich eine Pflaumenschnitte auf.

Annika legte ihre Zeitschrift beiseite.

Auflösung

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Auflösung

Ganz ähnlich seien seine Ländereien am Roten Meer beschaffen, sagte Ramses IX., im Grunde handle es sich um unfruchtbare Einöde, nein, Tourismus habe es zu seiner Zeit nicht gegeben, das Leben existiere nicht, damit der Mensch sich vergnügen könne.

Er verstummte und blickte hinaus auf das Wasser.

Dämmerung

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Episode der Dämmerung

Ob sie je darauf geachtet hätten, wann die Dämmerung anbreche.

Er mache Witze, sagte McAlister.

Die Sonne gehe unter, spottete Pirelli.

Sut lächelte, und Stille trat ein.

Thimbleman reckte die Arme.

Eldin fühlte nach seinem Schultergelenk.

Wann sie endlich wieder die Schaluppen zu Wasser brächten, wollte Harmat wissen.