So sexy, wie Schande nur sein kann

Comic | Lovern Kindzierski, John Bolton: Shame

Ein morbides Schauermärchen in starken Bildern: Mit dem bei Splitter verlegten Comic ›Shame‹ beweist sich der viel gebuchte Kolorist Lovern Kindzierski auch als Autor. CHRISTIAN NEUBERT hat sich den Bein zeigenden Band vorgenommen.

Lovern Kindzierski John Bolton - ShameMutter Tugend ist beliebt bei Jung und Alt. Die selbstlose Frau hilft, wo sie nur kann, und ihre wohlwollend eingesetzte Zauberkraft heilt die Wunden in den Herzen und den Körpern aller, die Hilfe brauchen. Abends jedoch, wenn sie alleine zu Hause ist, fühlt sie sich einsam. Ach, hätte sie doch ein eigenes Kind! Der düstere Dämon Spott bekommt davon Wind – und pflanzt in ihr einen Samen, der Mutter Tugends leichtfertig ausgesprochenen Wunsch Wirklichkeit werden lässt. Das alsbald geborene Resultat der unheiligen Übereinkunft ist ein Mädchen und hört auf den Namen Schande. Mutter Tugend ist sich darüber im Klaren, dass Schande früher oder später den dunklen Pfaden ihres dämonischen Vaters folgen wird – und erschafft ihr einen Goldenen Käfig: Die sogenannte Wiege. Ein kleines Idyll voller Nymphen und Dryaden, in der Schande behütet vor dem Unbill der Welt heranwachsen kann – und dem sie, zum Schutze der Welt, nie entkommen soll.

Jugend kennt keine Tugend

Im Laufe ihrer Jugend möchte Schande allerdings erfahren, was hinter der Wiege liegt. Sie will ausbrechen, will die schützenden, gut gemeinten Fesseln ihres Zuhauses loswerden – und lernt, ihre Mutter zu hassen. Bald schon lässt sie sich, verführt von den verderblichen Verheißungen ihres Dämonenvaters, vom Inkubus schwängern. Sie bekommt ein Kind, in dessen Körper sie den Geist ihrer Mutter bannt – und verlässt die Wiege, genährt von Rachedurst und einem dämonisch verkorksten Mutter-Tochter-Verhältnis.

Lovern Kindzierski John Bolton - Shame LeseprobeDer Comic ›Shame‹ ist ein morbides Märchen voller bizarrer Einfälle, durchzogen von poetischen Sprachbildern, getragen vom gezeichneten Kontrast zwischen abseitiger, aber offenkundiger Erotik und dämonisch-grotesker Düsternis. Sein Autor Lovern Kindzierski, der vorwiegend als Kolorist, z.B. für Neil Gaiman, Clive Barker und das Verlagshaus Marvel, arbeitet, hat mit dem Comic einen Lesestoff zwischen intensiv und pubertär geschaffen. Seine Frauenfiguren sind elfenhafte Lolita-Fantasien, die Schergen des Bösen pechtriefende Geister in burtonscher Anmut.

Die Seitenarrangements spielen gut mit diesen Gegensätzen, während der größte Gewinn wohl der Umstand bleibt, dass Kindzierski John Boltons plakative Fantasy-Zeichnungen selbst kolorierte: Die etwas statisch wirkenden Bilder erhalten dadurch ein eigenwilliges, kunstvolles Flair, das dem Märchenhaften gut in die Hände spielt und seine weiblichen Figuren auch noch in misslichen Situationen sexy glänzen lässt.

Nicht mit Reizen geizen

Ist das ausbeuterisch? Bestimmt. Zumal schließlich offenbar wird, dass es halt ’nen Mann braucht, der innerhalb des vermaledeiten Mutter-Tochter-Dings, an dem hier das Heil der Welt hängt, scharfes Schwert und kühlen Kopf bewahrt. Wobei der auch ein bisschen doof sein darf … Nein, es ist nicht das eventuell Ausbeuterische in den kunstvollen Zeichnungen; das kann, das darf, das soll vielleicht sogar – aber das sollen andere entscheiden. Vielmehr ist es die bei allem sprachlichen Geschick etwas flache Story, die den Lesespaß zunehmend trübt.

›Shame‹ ist ein Schauermärchen – und bewegt sich dabei kaum über den Äquator einfacher Märchenhandlungen hinaus, weswegen es hier die Bilder sind, die den Reiz des als Gesamtausgabe verlegten, dreibändigen Comics bis zum Schluss tragen.

| CHRISTIAN NEUBERT

Titelangaben
Lovern Kindzierski / John Bolton: Shame
Aus dem Englischen von Gerlinde Althoff
Bielefeld: Splitter 2016
184 Seiten. 29,95 Euro.
| Erwerben Sie dieses Buch portofrei bei Osiander

Reinschauen
| Homepage des Zeichners

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Nintendos Newcomer

Nächster Artikel

DJ Kicks, Precious Systems and Late Night Tales: New Album Reviews

Weitere Artikel der Kategorie »Comic«

Best of Superschurkin

Comic | Christian Endres (Hrsg.): Harley-Quinn-Anthologie Weibliche Gegner von Comic-Superhelden haben es im jeweiligen Kosmos schwer, als wahre Schurken oder Bedrohungen des starken, meist maskulinen Helden wahrgenommen zu werden. Doch einige bringen es zu Ruhm. Von PHILIP J. DINGELDEY

Sich selbst finden im Angesicht der Homophobie

Comic | Julius Thesing: You don’t look gay

Julius Thesings Comic- und Jugend-Buch ›You don't look gay‹, das fast vollständig in einem auffälligen Rosaton gehalten ist, erinnert in leicht zugänglicher Art daran, dass Homosexuellenfeindlichkeit auch in westlichen und europäischen Ländern nach wie vor ein Problem ist – sei es im Alltag oder in der Politik. Außerdem zeigt Thesings Comic beispielhaft, wie ein Coming-out-Prozess abläuft, und macht anderen Mut. Von FLORIAN BIRNMEYER

Doppeltes Glück mit dem roten Affen!

Comic | Joe Daly: Doppeltes Glück mit dem Roten Affen Comic-Zeichner scheinen kein sehr selbstzufriedenes Völkchen zu sein. Das könnte man zumindest glauben, wenn sie Vertreter ihrer eigenen Zunft porträtieren. Ob das Hideo aus I am a Hero ist oder jetzt Dave aus Joe Dalys Doppeltes Glück mit dem Roten Affen, meistens handelt es sich um jammernde Muttersöhnchen ohne Mutter, die mit verhassten Auftragsarbeiten Geld zu verdienen suchen.

Eine sehr langsame Form der Reportage

Comic Spezial | Comic-Journalismus Spätestens seit dem »rasenden Reporter« Egon Erwin Kisch (der in Wirklichkeit ziemlich gründlich und langsam arbeitete) verbinden wir mit einem Journalisten das Bild eines Mannes, der sich mit Notizblock und Kamera an Orten aufhält, wo wichtige Dinge passieren. Er kann aber auch mit Zeichenbrett und Skizzenblock ausgerüstet sein. Der 18. Internationale Comic Salon Erlangen warf ein Schlaglicht auf das Genre des Comic-Journalismus, das vor allem in den klassischen frankobelgischen und angelsächsischen Comicländern zu boomen scheint. ANDREAS ALT hat sich informiert.

Nicht nur Kraut und Rüben

Comic | Émile Bravo: Der vergessene Garten Émile Bravo, einer der führenden aktuellen französischen Comickünstler, lädt den Leser dazu ein, einen Blick in seinen Garten zu werfen. Dabei sollen wir nicht seine bunten Blumenbeete oder stolzen Riesenkürbisse bewundern, sondern eher die faszinierende Schönheit von wildwucherndem Unkraut und bizarren Nachtschattengewächsen entdecken. BORIS KUNZ hat die Einladung angenommen und sich umgesehen.