Comic | Frank Schmolke: Nachts im Paradies
Abfahrt: Comic-Künstler Frank Schmolke bittet in ›Nachts im Paradies‹ auf den Beifahrersitz durch Münchens Nächte zur Oktoberfestzeit. Der Band zeigt die Schattenseiten der Riesengaudi mit expressiver Wucht – als Bavarian Noir Comic, der einen glatt aus den Socken haut. Von CHRISTIAN NEUBERT
O’zapft is – und Vincent Kutscher lädt zur Fahrt. Während Legionen Vergnügungssüchtiger dem Ruf des Oktoberfests folgen, wittert er fette Beute. Weil die Kasse eben klingelt, ›Nachts im Paradies‹, wenn die Bierleichen in ihre maßlos überteuerten Unterkünfte wollen, nachdem ihnen der Biergarten Eden den Rest gegeben hat. Vincent weiß, wie´s läuft, er ist ein alter Hase im Geschäft. Und blickt dem dirndl-dichten Treiben zwar angewidert und deutlich von den Nachtdiensten gezeichnet, aber eben auch geschäftstüchtig entgegen.
Doch diese Schicht entpuppt sich als Reinfall. Erst wird er geblitzt. Dann kotzt man ihm ins Auto. Auf´s Auge kriegt er auch noch. Außerdem wird er beklaut. Abg´fucked is.
Abg’fucked is
Vincent ist 50 Jahre alt und Taxifahrer in München. Er lebt in Trennung. Seine 16-jährige Tochter verbringt die nächsten Tage bei ihm. Beide stürzen sich ins Nachtleben. Er schiebt Dienst. Sie macht die Clubs unsicher. Bekommt KO-Tropfen ins Glas. Und deliriert in der Folge durch die Straßen, verfolgt von einer Handvoll widerlicher Typen, die sich an ihr vergehen wollen. Er erhält derweil das Angebot einer Rotlichtgestalt, einen lukrativen Fahrerjob zu erledigen.
›Nachts im Paradies‹ kreuzt beide Schicksale. Frank Schmolke wirft den Abgrund nach der Wiesn-Gaudi mit roher Gewalt auf die Seiten seines Bavarian Noir Comics – und setzt dabei feine Nuancen filigran in Szene. Von München bekommt man ja nicht allzu oft die Schattenseiten vorgeführt: Schmolke haut sie einem bretthart um die Ohren.
Bavarian Noir
Was er mit dem Tuschestift leistet, wenn er die taumelnden Wiesn-Horden buchstäblich zu Zombies macht, Panorama-Panels mit Fahrgästen besetzt und Splash Pages explodieren lässt, vermittelt ein ähnlich düsterstimmendes und -stimmiges Münchenbild wie Feinkost Paranoia hören. Und Schmolke weiß, wovon er redet: Er verbrachte zahllose Stunden als Taxifahrer in München. Und setzt sich auch heute noch hin und wieder ans Steuer, wenn für ihn als freiberuflichen Illustrator und Comic-Künstler Flaute in der Kasse herrscht.
›Nachts im Paradies‹ sollte das ändern. Schmolke zeichnet seit über 20 Jahren Comics, der rund 350 Seiten starke Band ist seine zweite längere Erzählung – und eine Wucht, die knallt wie der Obstler zur Maß. Dabei will seine düstere Taxiballade gar kein ›Taxi Driver‹ sein. Sein Protagonist Vincent Kutscher ist kein Travis Bickle, das München der Gegenwart kein New York der Siebziger. Als Taxler weiß er aber, dass die Wiesn die Bronx der Volksfestgaudi ist. Und dass gerade auch glänzende Städte wie München große Schatten werfen.
Schmolkes Fahrt durch die Abgründe hinter Münchens schillernden Fassaden wechselt gekonnt die Gänge. ›Nachts im Paradies‹ versteht das Spiel mit Gaspedal und Bremse, wenn die Erzählung in ungeahnte Richtungen gelotst und das Taxometer von Routine auf Roulette geschaltet wird.
Der authentische Blick auf die Straßen speist sich dabei aus Schmolkes Erfahrungsschatz. Viele der Figuren des Comics sind realen Personen nachempfunden, an die Schmolke als Taxifahrer geraten ist, wie er im Nachwort erklärt. Die bedrückend-beklemmende Story, die er um sie webt, bildet den Stoff für einen der besten Comics, den man seit Langem von einem deutschsprachigen Zeichner zu lesen bekam.
›Nachts im Paradies‹ haut einen glatt aus den Socken.
Titelangaben
Frank Schmolke: Nachts im Paradies
Zürich: Edition Moderne, 2019
352 Seiten, 29,80 Euro
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