Sut erzählt von den Nuu-chah- nulth

Textfeld | Wolf Senff: Sut erzählt von den Nuu-chah-nulth

eins

Über das ganze weite Land verstreut leben eingeborene Völker, Ureinwohner Nordamerikas, sagte Sut, auch wenn in diesen Jahren alles zu den kalifornischen Claims drängt und mancher ungeachtet der drohenden Gefahren sich im Treck über die Prärie und die Rocky Mountains auf den Weg macht. Die Ureinwohner seien keineswegs ausgerottet, sagte er, erst das Massaker von Wounded Knee, 1890, längst nach unserer Zeit, sagte er, markiere das Ende einer unabhängigen indigenen Kultur.

Wir sind im Krieg mit den Ureinwohnern, länger schon als ein Jahrhundert, ihr Lieben. Die Vereinigten Staaten sind eine hochexplosive Angelegenheit, immer schon, daran wird die Zukunft keinen Deut ändern. Der Trail of Tears ist kaum zwanzig Jahre her, ihr erinnert euch, jene Zwangsumsiedlung von Indianerstämmen, die in südöstlichen Staaten der USA lebten, über mehrere tausend Meilen nach Oklahoma, versteht ihr, sagte Sut, das Land wurde von den Nachkommen der Pilgrim Fathers erobert, in Besitz genommen, kolonisiert. Die Ureinwohner, First Nations, wurden in Reservate ausgesiedelt.

In Kalifornien wurden sie allein schon durch den ungeheuren Bevölkerungszuwachs verdrängt, nachdem 1848 in der Wildnis um Sutters Mühle Gold gefunden wurde. Keine zwei Jahre waren vergangen, da lebten, stellt euch vor, neunzigtausend Bürger in Kalifornien, und zwanzig Jahre später eine halbe Million, wer könnte da den Überblick bewahren.

Der beste Ort, sich aufzuhalten, ist das Meer, sagte Pirelli.

Eldin nickte und hielt sich die Schulter.

Und ihr wisst selbst, es gibt gerade in diesen Tagen einen empörend offenen, erbarmungslosen Rassismus. Kinder von Ureinwohnern werden systematisch verfolgt, entführt und verkauft. Die kalifornische Regierung setzt Prämien für Indianerskalps aus. Siedler und Milizen sind im Begriff, den nordkalifornischen Stamm der Yuki zu vernichten. Wohin wird uns diese Feindseligkeit der weißen Einwanderer führen? Wer wird einst die Suppe auslöffeln, die sich dieses Land heute einbrockt?

Er spricht von uns?

Die weißen Einwanderer? Sicher, das sind wir, Gramner.

Auf dem Festland herrscht grenzenloses Durcheinander, ergänzte Bildoon, die USA sind ein ›Failed State, und wir können froh sein, uns nie allzu lange dort aufhalten zu müssen.

Die See ist unsere Heimstatt, flüsterte Harmat lächelnd.

Ruhe!, zischte Thimbleman.

 

zwei

Nicht ganz so weit entfernt, wie wir von Frisco nach Süden gesegelt sind, liegt nach Norden Vancouver Island, eine langgestreckte Insel entlang der kanadischen Küste, sagte Sut, und ihr sind weitere kleine Inseln vorgelagert, von einer will ich euch erzählen.

Dann erzähl, ermunterte ihn Termoth, der Hüne, der sich diesmal frühzeitig dazugesetzt hatte und den wieder einige Schwarze von der Marin zur Boston begleitet hatten. Sie fühlten sich unangreifbar in seiner Gegenwart, er verlieh ihnen Halt.

Von einer Insel erzählen?, fragte Crockeye: Wie soll das gehen?

Sei nicht so ungeduldig, Kerl, tadelte McAlister, der hinter ihm saß, und Crockeye wandte sich ärgerlich um.

Vielleicht weil es eine Insel war oder weil sie zu Kanada gehörte, wo sich nichts von den Aufgeregtheiten der USA wiederfand, rein gar nichts. Sofen ihr die Grenze überschreitet, müsst ihr euch vorstellen, erlischt im Nu die Hysterie, die Disziplinlosigkeit, der Hass, die aggressive Gier, die euch in den Staaten umtreibt.

Sut sah das ungläubige Kopfschüttteln von Crockeye und Gramner.

Ihr glaubt mir nicht?, fragte er, blickte beide an und lächelte. Ehrlich, sagte er, ich würde das selbst kaum glauben, wenn ich es nicht besser wüsste.

Sechzehn indigene Stämme leben in ihren Dörfern ungestört über rund zweihundertfünfzig Meilen am östlichen Rand von Vancouver Island und auf vorgelagerten Inseln, die Stammesführer bilden den Ältestenrat der Nuu-chah-nulth. Feuchte Winde vom Meer bringen Niederschläge, wir finden eines der größten gemäßigten Regenwaldgebiete auf dem Planeten und folglich reichhaltige Fischbestände, vor allem Lachs.

Niemand muss zur See fahren, und niemand steckt Claims ab und schürft nach Gold. Nach Osten sind sie durch hohe Gebirge abgeschirmt, die Küstengebirge in British Columbia und die Kaskaden-Kette in Washington und Oregon. Sie leben dort seit über vier Jahrtausenden, und niemand käme auf den Gedanken, sie zu vertreiben. Sie ernähren sich vom Fischfang und jagen den Wal, solange Saison ist. Ein Idyll!

Die Makah, ein südlicher Stamm der Nuu-chah-nulth, von dem ich erzähle, leben am Kap Flattery auf der zum Bundesstaat Washington gehörenden Olympic-Halbinsel südlich der Juan de Fuca-Straße, die die Halbinsel von der Insel Vancouver trennt.

Unser Grauwal, unterbrach Pirelli, kommt dort jedesmal auf seinem langen Weg von der Beringsee zu den Lagunen der Baja California entlang.

Du hast recht, Pirelli, das ist unser Teufelsfisch. Doch die Jagd dieser Stämme verläuft anders als unsere, ihr werdet euch wundern, sie leben in einer gänzlich anderen Welt.

Wie meinst du das, in einer anderen Welt?, fragte Thimbleman. Das musst du uns erklären, Sut!

Geduld, mein Junge, nur Geduld. Die meisten Angehörigen der Stämme waren miteinander verwandt, zu jedem Stamm gehörten einige Familien.

Also ähnlich wie die Walstationen, die man gelegentlich an den Küsten Südkaliforniens findet? Thimbleman wurde neugierig.

Lass ihn erzählen, Thimbleman, ermahnte ihn Mahorner.

Du wirst es schon erfahren, Junge, sagte Eldin, nun unterbrich ihn nicht länger.

Nein, wir können diese Stämme nicht mit Walstationen vergleichen, sagte Sut, und dass sie einen Wal zur Strecke bringen, geschieht nicht, um den Tran zu verkaufen, und nicht, um Geld zu verdienen, sondern sie decken damit ihren eigenen Bedarf.

Was heisst das, fragte Bildoon, dass sie ihren eigenen Bedarf decken?

Sie erlegen nicht mehr, als sie brauchen, sagte Pirelli.

Wir erlegen auch nicht mehr, als wir brauchen, widersprach Bildoon.

Der Stamm, der einen Wal erlegte, nutzte ihn für eigene Zwecke, erklärte Sut, ein Wal bedeutete stets Nahrung für einige Wochen oder sie teilten mit einem benachbarten Stamm.

Sie verkauften, sagte Bildoon.

Nein, sie verkauften nicht, sagte Sut, sie kannten kein Geld, sie trieben keinen Handel.

Sie kannten kein Geld? Bildoon überlegte. Dann machte es ja auch keinen Sinn, dass sie nach Gold gegraben hätten.

So ist es, sagte Sut lächelnd, niemand kam auf den Gedanken, nach Gold zu graben, die Erde war ihnen heilig und es lag ihnen fern, sie auszubeuten, ihre Schätze zu rauben.

Wer beutet die Erde aus?, fragte Bildoon. Er verstand es nicht.

Der Mensch beutet die Erde aus, sagte Harmat, er plündert die Goldlager.

Er hat die Claims zuvor gekauft, sie gehören ihm, protestierte Bildoon energisch, und das Gold, das er dort ausgräbt, gehört ihm. Wer behauptet, das sei illegal?

Du verstehst es nicht, entgegnete Harmat.

Wie meinst du das, ich verstehe das nicht? Bildoon richtete sich auf, er war ein Hitzkopf.

Ruhe!, rief Thimbleman.

Eldin warf den Streithälsen einen zornigen Blick zu.

 

drei

Die Stämme der Nuu-Chah-nulth jagen auch den Wal anders als wir, sagte Sut.

Wie kann man den Teufelsfisch anders erlegen, fragte McAlister verwundert, das interessiert mich.

Was ist mit euch los, Freunde, fragte Pirelli, lasst ihn doch endlich erzählen, er kommt ja gar nicht zu Wort.

Sie sind jetzt den vierten Tag auf Urlaub gesetzt, verteidigte Sut seine Zuhörerschaft, da muss man verstehen, dass die Stimmung gereizt ist.

Scammon hockt Tag und Nacht in der Kajüte und arbeitet an seinen Aufzeichnungen über Walfang und Robbenjagd, ergänzte Mahorner, das ist kein Zustand.

Drei oder vier Männer applaudierten zaghaft, doch Eldin schnauzte rigide dazwischen: Gebt einmal Ruhe! Lasst Sut seine Geschichte erzählen!

Sut blickte sich um und wartete noch einige Sekunden ab, dass sich die Hitze legte.

Ihr werdet euch wundern, begann er. Die Nuu-chah-nulth erlegten wenige Wale, vielleicht drei, vielleicht vier, doch das war der geringste Teil ihrer Jagd.

Was hat er geraucht?, flüsterte Harmat.

Sei endlich still, sagte Bildoon, ich will das jetzt wissen.

Die Nuu-Chah-nulth sind überzeugt, dass alle Existenz eine Einheit bilde und das Körperliche sich nicht vom Geistigen trennen lasse.

Wie meint er das?, fragte Bildoon. Was hat das denn mit dem Wal zu tun?

Selbstverständlich, versicherte Sut, das hat mit dem Wal zu tun. Denn da sie außerdem glauben, dass letztlich die geistige Dimension für alles reale Geschehen ausschlaggebend sei, obliege es ihnen, vor Beginn der Jagd, vor Beginn des Tötens die geistige Dimension zu balancieren, mehr noch, die Erlaubnis einzuholen, damit die Harmonie nicht beschädigt werde.

Den Zuhörern verschlug es die Sprache. Davon hatten sie nie vernommen. Eine geistige Welt?

Es war still geworden, mucksmäuschenstill, einmal abgesehen vom unaufgeregten Rauschen der Brandung. Walfang war todesmutiger Kampf, eine blutrünstige Angelegenheit. Mit Harmonie hatte das gar nichts zu tun, so viel stand fest. Doch Sut wäre nicht Sut, wenn sie sich seiner Erzählung hätten verschließen können. Termoth, dem Hünen, der den Schwarzen der Marin als Schutzpatron galt, standen die Tränen in den Augen.

Keesta, ein als heilig verehrter Stammesältester, führte, so heißt es, viele Jahre lang die Walfangunternehmungen an, die ausgelöst wurden, sobald Wale gesichtet wurden, in den späten Herbstwochen waren Grauwale erste Boten der großen Wanderung zu den südlichen Lagunen, im ausgehenden Frühjahr Boten der Rückkehr ins Beringmeer. Von diesen Tagen an konzentrierten sich alle Gedanken und Handlungen auf den Grauwal. Doch auch den Buckelwal sahen sie häufig nahe der Küste.

Ist es eine Religion?, flüsterte Crockeye.

Wie meinst du das?, fragte McAlister.

Mehrmals täglich versammelte Keesta die acht Männer, die mit ihm auf Walfang gehen sollten, für Gesänge und Gebete, sie hatten ihre Gesichter mit Farben geschmückt, um eine harmonische Stimmung zu beschwören, und der Geist des Friedens würde von Tag zu Tag mächtiger, würde schließlich auch den Wal umfangen und dessen Widerstand auflösen.

Wer soll das verstehen?, flüsterte Thimbleman.

Beruhige dich, sagte McAlister, Sut erzählt auch einmal eine erfundene Geschichte. Man merkt den Unterschied, oder?

Da gibt es keinen Unterschied, griff Thursday ein, was Sut da erzählt, gibt es wirklich.

Unsinn, sagte McAlister.

Du triffst jene indigenen Gruppen, sagte Sut, indem du von Frisco nördlichen Kurs segelst, glaub mir, rund tausend Meilen. Sie werden nicht so erbittert verfolgt wie in den Staaten, und sie sind fundamental anders als wir. Die Menschen sind verschieden, McAlister, das wird niemand ändern.

McAlister schüttelte unwillig den Kopf. Erzähl weiter, sagte er.

Die acht Mann, die das Fangboot rudern würden, wurden von Keesta sorgfältig ausgewählt, sie unterzogen sich reinigenden Ritualen, badeten im Meer oder in abgelegenen Teichen und trockneten und rieben ihre Haut mit Astwerk der Zeder, und es war ihnen untersagt, an den gemeinsamen Mahlzeiten teilzunehmen.

Nachdem eine Woche mit strikten Übungen verstrichen war, rief Keesta die Männer zum Boot, und als sie ablegten, wurden sie von Gesängen der am Strand versammelten Stammesangehörigen begleitet. Die Männer im Boot stimmten nun selbst Lieder an, in denen sie um Nachsicht und Vergebung für den Schmerz baten, den sie der Natur zufügen würden. Darin unterschieden sich die Stämme kaum, die südlichen Makah tätowierten sich die Arme und legten mehr Farbe auf, doch das war es dann auch.

Sie haben es gut, schwärmte Bildoon, der Wal schwimmt direkt vor ihrer Haustür.

Es ist eine Welt aus Erzählungen, aus der die Wirklichkeit der Nu-chah-nulth sich bildet, das müssen wir verstehen.

Was gibt es da zu verstehen, protestierte Crockeye, ist doch unsere Wirklichkeit durch die Erzählungen von den Goldfunden gebildet. Ist es nicht so?

Wir fahren zur See, wandte Gramner ein.

Überall wird nur von der Goldsuche geredet, sagte Pirelli, die Gier ist Teil unseres Alltags, wir sind vom Rausch ergriffen ohne Aussicht darauf, dass wir nüchtern werden, bevor die Vorräte geplündert sind, und von der Ostküste reisen die Menschen tausende Meilen, um sich einen günstigen Claim zu sichern, sie sind von Sinnen.

Siehst du, sagte Crockeye und warf einen triumphierenden Blick auf Gramner.

 

vier

Eine gewisse Ähnlichkeit lässt sich nicht abstreiten, sagte Sut, hört euch einmal eine der Geschichten an, die die Nuu-chah-nulth ihren Kindern erzählen. Viele Geschichten gibt es vom Raben, und der Wal spielt ebenso eine wichtige Rolle.

Sie erzählen beispielsweise von einer Fangsaison, in der der Fischfang geringe Erträge einbrachte, so dass die Menschen hungerten. Das sah der mächtige Donnervogel, der mit einem Schlag seiner Flügel Stürme entfachen kann und die Wolken am Himmel zusammenballt. Er rief nach Blitzschlange, die sich um seine Hüfte wand, und so flog er an der Küste entlang und hielt Ausschau nach einem Wal.

Er hatte so scharfe Augen, dass er sogar aus der Höhe die großen und kleinen Fische im Meer erkannte. Sobald er einen Wal entdeckt hatte, griff er nach der Schlange und schleuderte sie hinab wie einen Blitz, der zuschlug und den Wal betäubte. Als der Wal trieb ohnmächtig auf dem Meer trieb, schwang sich Donnervogel mit einem Flügelschlag hinab, packte ihn mit mächtigen Krallen und trug ihn bis zu den Dörfern der Nuu-chah-nulth, damit sie nicht länger Hunger litten.

Der Wal war ein wichtiger Teil ihrer Ernährung gewesen, so lange sie denken konnten, und sobald der erste Wal auf seiner großen Wanderung vor der Insel Vancouver entdeckt wurde, begannen die Stämme den Walfang einzuleiten.

Sie ließen die Boote zu Wasser.

Sie hatten lange, schmale Boote mit einem einzigen Segel.

Wie unsere Schaluppen.

Also doch.

Meistens war es ein einziges Boot, sagte Sut, denn sie hatten selten mehr als einen Mann, der die Harpune warf. Dieser Mann nahm das ganze Jahr über eine Sonderstellung ein, er war derjenige im Stamm, der dem Geist der Schöpfung am nächsten stand, er hatte Monate damit verbracht, sich vorzubereiten, und zwar an seinen geheimen, geheiligten Orten. Der Wal würde sein Leben dafür hergeben, dass die Jäger und die indigenen Völker sich ernährten. Deshalb waren auch die berühmtesten Harpuniere demütig und lebten wie Einsiedler, wie Asketen.

Es verlangte vier Jahre und mehr, die ein Mann mit Gebeten und reinigenden Ritualen verbrachte, bevor sein Geist vorbereitet war. Von Januar bis April war er täglich damit beschäftigt, danach mehrmals im Monat, und falls er verheiratet war, zog er oft aus und errichtete sich ein Nebenhaus im Dorf. Während all seiner Jahre als Walfänger lebte er zölibatär, seine Energien und sein Geist waren auf den Wal konzentriert. Man glaubt, er erfahre eine Vision, die ihm ein geheimes Symbol übertrage und ihm die Kraft verleihe, dem Wal entgegenzutreten.

Der Wal gilt den Nuu-Chah-nulth als ein großes Geheimnis, iihtuup, so nennen sie ihn, und der Harpunier war überzeugt, ein bestimmter Wal liefere sich ihm aus, aufgrund geheimnisvoller Kräfte, und erst durch die Gebete und die gründliche innere und äußere Reinigung sei er würdig, dieses Geschenk des Lebens entgegenzunehmen.

Wenn sie dann ihr Segel setzten und hinauskamen auf die freie See, wo tausende Wale nach Norden zogen, warf er die Harpune nicht auf das erste beste Tier, sondern er hielt Ausschau nach demjenigen, der ihm bestimmt war und der sich nicht sträuben würde – sie würden einander erkennen, heißt es. Der Wal liefere sich dem Jäger aus, der dafür gebetet und sich gereinigt habe, und sobald er getroffen sei, flüchte er nicht hinaus in die offene See, sondern schwimme zur Küste hin.

Im Ernst?, fragte Harmat.

Unmöglich, sagte Bildoon.

Ich glaube nur das, was ich mit eigenen Augen gesehen habe, sagte Crockeye.

Jeder auf dem Boot hatte seine spezifische Aufgabe, sagte Sut. Der Harpunier war ihr Anführer; ein anderer warf Seehundfelle aus, mit denen das Boot abgebremst wurde; wieder ein anderer tauchte nach dem erlegten Tier, machte einen Schnitt in dessen Oberlippe und den Unterkiefer und nähte ihm das Maul zu, damit kein Wasser eindrang, die Luft verdrängte und den Kadaver womöglich unter Wasser zog. Andere Boote, die sich angeschlossen hatten, griffen erst ein, sobald der Wal entkräftet war. Auf allen Booten wurden Gesänge angestimmt, während sie dem Wal zum Strand folgten. Die Ehefrau des Harpuniers trat als erste auf den Kadaver zu, um ihm ihren Respekt zu erweisen. Ihr seht, wie grundverschieden, verglichen mit uns, die Nuu-chah-nulth den Wal jagen.

Er weiß, wovon er redet, sagte Termoth.

Sollen wir das wirklich für bare Münze nehmen? Harmat zweifelte daran.

Es ist eine andere Welt, sagte Mahorner, die Menschen sind verschieden.

Am Strand trennten die Männer die Fluke und einen Teil des Rückens ab, verbrachten aber wiederum einige Tage mit rituellen Gesängen und Tänzen, um den Geist des Wals am Ende seiner Reise zu verabschieden. Erst dann wurde zu einem Potlatch aufgerufen, und die Teile des Tieres wurden unter der Gemeinschaft aufgeteilt, auch dieses nach strikten Regularien.

Wir dürfen uns all das zwar als eine hochdramatische Angelegenheit vorstellen, sagte Sut, jedoch endete sie keineswegs mit einer Siegesfeier und triumphierenden Walfängern. Nein, das wäre die westliche Erzählung. Bei den Nuu-chah-nulth behält das Geschehen stets seinen feierlichen, streng rituellen Charakter, die Abläufe sind konzentriert und diszipliniert, ein Buckelwal musste präzise unterhalb seiner Seitenflosse getroffen werden, und es kam durchaus vor, dass der Harpunier nicht traf oder, wenn er ungenau traf, dass sie einige Tage lang hinter dem Wal hergeschleppt wurden.

In einem solchen Fall war es nichts mit der Kapitulation?

Nein, das war dann meistens nichts, sei es dass die Vorbereitung nicht gründlich genug gewesen war, sei es dass der Harpunier nicht genug Erfahrung gesammelt hatte.

Man weiß es nicht.

Richtig, man weiß es nicht. Die Arbeit verlangt Geschick, ihr wisst das am besten, sie verlangt Ruhe und Konzentration in einem von den Wogen geschüttelten Boot, und es gibt eben auch verschieden gute Harpuniere, Keesta war einer der berühmtesten, er wird noch heute verehrt.

 

fünf

Da übertreibt er. Er überfordert sein Publikum. Tim schenkt sich Tee nach, sieht auf den grünen Drachen und freut sich darüber, dass das Service Susanne gefällt. Der Vortragende, ergänzt er, begeht einen katastrophalen Fehler, das Niveau seines Vortrags nicht dem Publikum anzupassen.

Wie kannst du so kleinlich sein, Tim! Der Mensch muss vor den Abläufen gewarnt werden, die außer Kontrolle geraten, der Goldrausch ist Kapitalismus der übelsten Sorte.

Gewarnt, ja, gern. Aber Sut präsentiert den Männern eine Kultur, die für sie jenseits aller Erfahrung liegt.

Ihnen gefällt, was er erzählt.

Das ist richtig.

Sie hören aufmerksam zu, sie sind friedfertig, niemand neigt zu Handgreiflichkeiten. Ist Bildoon nicht sogar interessiert?

Er wird neugierig, das ist richtig.

Also bitte, Tim. Jetzt schenkt sich auch Susanne Tee nach, der grüne Drache ist unvergleichlich. Außerdem herrschte damals eine Aufbruchsstimmung, Tim.

Die Einwanderer waren aggressiv und beseitigten alles, was sich ihnen in den Weg stellte, sie nahmen das Land in Besitz, heute würden wir sie vermutlich als Invasoren bezeichnen. Dass das Land unbesiedelt gewesen sei und frei, ist Fake News. Es gab keinen Pardon. Der Kapitalismus ist selbst ein gigantischer Goldrausch.

Susanne lacht.

Der Mensch des einundzwanzigsten Jahrhunderts hat nichts im Griff. Kalifornien? Die Infrastruktur kollabiert, Feuersbrünste toben sich aus, Staudämme laufen über, Regionen werden unbewohnbar, die Erzählung vom Menschen, der den Planeten kultiviert habe, wie verlogen sie auch gewesen sein mag, sie neigt sich ihrem Ende entgegen, der Mensch wird ernüchtert.

Er kommt zur Besinnung?

Das wird schwierig werden, Susanne. Der Planet balanciert seine Rhythmen anders als zuvor. Extreme Wetterlagen nehmen zu, die Meere übersäuern, das polare Eis schmilzt, das Klima stellt sich neu auf.

Du malst ein Horroszenario, Tim, lehn dich zurück, entspann dich, trink ein Täßchen Tee.

 

sechs

Euch ist hoffentlich nicht entgangen, wie tief der Wal im Leben und in der Kultur der Nuu-chah-nulth verwurzelt war. Habe ich erwähnt, vergewissert sich Sut, dass die Ehefrau des Harpuniers, also des Anführers, in die rituellen Vorbereitungen einbezogen ist? Eines der Rituale imitiert die Jagd, da läuft der Mann an einer langen Leine, die von der Frau gehalten wird. Er beugt sich vor, als ob er der Wal wäre, und bewegt sich zu einem Gesang der Frau, in dem sie den Tod des Wals beschwört.

Ein Kindergarten, wandte Eldin ein.

Auch während die Männer später im Boot dem Tier folgen werden, beachtet die Frau strikte Regeln, um ihnen geistig verbunden zu bleiben.

Das unterscheidet sie tatsächlich von uns, sagte Pirelli. Er war skeptisch und konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen.

Wenn es eben so ist, sagte Mahorner.

Spannend ist Suts Geschichte diesmal nicht, wandte Crockeye ein.

Sie ist einmal etwas Neues, sagte Harmat

Deshalb war es ein furchtbarer Schlag für die indigenen Stämme, sagte Sut, dass die sozialen, ökonomischen, kulturellen und politischen Abläufe der industriellen Moderne die Strukturen gefährdeten, die in den Stämmen über Jahrtausende gewachsen waren. Die Regierung brachte ihnen bei, ihre traditionelle Lebensweise als wild zu verstehen, trennte Kinder von ihren Eltern, verbot die Zeremonien.

Das kann man gut nachvollziehen, sagte Eldin.

Zwar stellten die Nuu-chah-nulth in den zwanziger Jahren des neuen Jahrhunderts ihren Walfang ein. Doch eine den Menschen in Fleisch und Blut übergegangene Lebensweise lässt sich nicht von einem Tag auf den anderen umstellen, der Wal blieb unumstößlicher und widerständiger Teil ihrer Alltagskultur und ihrer Kunst, ein tiefer Stachel im scheinbar unaufhaltsamen, scheinbar alternativlosen Emanzipationsprozess der westlichen Moderne.

Was redet Sut? Ist er von Sinnen?

Ruhe, zischte Thimbleman.

Der Bestand der Wale war durch die kommerzielle Walfangindustrie gefährdet, der Grauwal war nahezu ausgerottet, und internationale Vereinbarungen untersagten in den sechziger Jahren jeglichen Walfang an der nordwestlichen Küste, der Grauwal wurde 1970 gar in die Liste der gefährdeten Arten aufgenommen und durfte weiterhin nicht bejagt werden.

Das bedeutete für die Stämme der Nuu-chah-nulth, dass sie keinen Wal jagen durften?

Nicht einen einzigen, Thimbleman.

Das ließen sie sich gefallen?

Die Welt hatte sich rapide verändert, der militärisch-industrielle Komplex der USA überzog den Planeten mit verheerenden Kriegen, internationale Oligarchien herrschten über die Geschicke von Staaten, der vielgepriesene technologische Fortschritt vergiftete die Atmosphäre und die Böden, der moderne Mensch war gedankenlos und ahnte nicht, auf was er sich einließ.

Man konnte die Luft nicht mehr atmen?, fragte Crockeye. Wie denkst du dir das, Sut? Die Menschen mussten Atemschutzmasken tragen? Er lachte höhnisch auf.

Das denkt er sich aus, nicht wahr?, rief Harmat.

Die Böden vergiften, wollte Bildoon wissen, wie soll denn das möglich sein?

Du machst uns keine Angst, Sut, uns nicht. Mahorner suchte zu beschwichtigen.

Immerhin schien sich der Wal zu erholen, sagte Sut. Die Bestände des Grauwals waren bis zu den neunziger Jahren wieder zahlreich geworden, und 1994 wurde er aus der Liste gefährdeter Arten gestrichen. Da für indigene Völker eine Ausnahme vom Walfangverbot vorgesehen war, kündigten die Makah und die Nuu-chah-nulth an, ihre Walfangtradition wieder aufzunehmen, und nach langwierigen Verhandlungen wurde ihnen von der Internationalen Walfangkommission eine jährliche Fangquote zugeteilt, die Makah durften über einen Zeitraum von fünf Jahren zwanzig Wale jagen.

Was das sei, eine Fangquote?, fragte Gramner. Sut redet von Dingen, die niemand verstehe.

Lass ihn, widersprach Pirelli, von der Geschichte des Walfangs zu hören, wen interessiert das nicht? Was eine Fangquote ist? Den Nuu-chah-nulth wurde eine bestimmte Anzahl von Grauwal zu erlegen genehmigt. Was gibt es da nicht zu verstehen? Mich interessiert’s.

Uns auch, bekräftigten Bildoon und Harmat. Termoth und seine Leute applaudierten.

Eldin nickte wohlwollend.

Sut lächelte.

Das Vertrauen in die westliche Moderne bröckelte weltweit, sagte er, und die Stämme und Völker der Eingeborenen, First Nations, besannen sich auf ihre Traditionen, ihre Bräuche und ihre eigene Sprache.

Nach mehr als siebzig Jahren, im Mai 1999, sagte Sut, war es dann soweit. Ihr müsst euch vorstellen, dass die Stämme jahrzehntelang unter schwierigen Bedingungen lebten, wie sollten sie dem Assimilationsdruck standhalten. Viele junge Leute waren in die glitzernden Städte abgewandert, manche hatten dort einen Beruf ergriffen, andere studierten. Trotzdem waren die Bindungen stark geblieben, und die Tatsache, dass die Walfangtradition der Vorfahren wieder etabliert werden sollte, wirkte elektrisierend auf alle Nuu-chah-nulth. Regionale Zeitungen und TV-Sender drängten sich danach, vor Ort zu sein und aus erster Hand zu berichten. Ihr könnt euch vorstellen, dass das ein nie dagewesener Aufbruch war.

Sut schwieg.

Harmat und Bildoon blickten sich zögernd um.

Eldin lehnte sich erschöpft an die Reling.

Das war es dann?, fragte Crockeye.

So sind nun einmal die Geschichten, die Sut erzählt, sagte Pirelli, du wirst dich daran gewöhnen.

 

sieben

Hat er schön erzählt.

Real traten Probleme auf, sagt Tim.

Sut möchte davon nichts hören.

Möglich, Susanne. Das sind die Probleme der Ebene. Im Stamm der Makah entstand ein hässlicher Zwist darum, wer der Harpunier sein würde und wie die übrigen Plätze im Boot zu besetzen seien.

Ehrgeiz, Konkurrenz, Karriere. Jeder will Häuptling sein.

Störende Begleitmusik, sagt Tim. Ein anderes Problem waren die Tierschützer. Am lautstärksten trat die Sea Shepherd Conservation Society auf. Sie kreuzten wochenlang in den Gewässern vor der Neah Bucht, hinderten die rituelle Vorbereitung, warfen Gegenstände und beschimpften die Makah als »Wilde«. Die Küstenwache musste die Makah vor Aktivisten der Sea Shepherd Society schützen.

Die radikalen Tierschützer sind blind, was die tiefe kulturelle Verbindung der Makah mit dem Ozean angeht.

Ausschreitungen zwischen Walfang-Gegnern und den Makah waren während der Wochen vor der Jagd an der Tagesordnung, beliebt waren Autoaufkleber »Rette einen Wal, töte einen Indianer«, die Wogen schlugen hoch, die Straße zur Neah Bucht wurde blockiert, es gab Bombendrohungen, es war eine abscheuliche Kampagne gegen die Makah. Der Gouverneur stellte Nationalgardisten ab, die die Grenzen des Stammesgebietes bewachten.

Doch letztlich war für die Makah die erste Jagd auf den Wal ein Erfolg, oder?

Das ist nicht so sicher, Susanne.

Ein Anfangserfolg?

Es wird ein weiter Weg. Die Kampagne der Medien war mit der erfolgreichen Jagd nicht beendet. Die Makah wurden nun als blutrünstige Mörder dargestellt, die brutal und barbarisch auf den Wal losgegangen seien.

Manchmal lassen dir die Medien keine Chance.

Auf Antrag diverser Umweltschutzorganisationen ist den Makah seit 2003 die Fortsetzung des Walfangs gerichtlich untersagt. Eine Umweltstudie der National Oceanic and Atmospheric Administration vom März 2015 kann jedoch zu einer Wiederaufnahme des Walfangs der Makah führen. Man weiß es nicht.

Die Makah, sagt Susanne, dürfen sich von ihrer gewachsenen Kultur nicht abbringen lassen.

Sie nimmt ein Taschentuch und schneuzt sich.

Tim trinkt einen Schluck Tee.

| WOLF SENFF

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