//

Kosten & Nutzen

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Kosten & Nutzen

Eine der größten Ölpipelines in den USA wurde das Ziel eines Hackerangriffs. Der Betrieb der knapp neuntausend Kilometer langen Pipeline zwischen Texas und New York habe im Mai vorübergehend eingestellt werden müssen, teilte Colonial Pipeline mit, was zu erheblicher Versorgungsknappheit geführt habe, und konnte, wie es heißt, erst nach Zahlung von fünf Millionen Dollar Lösegeld wieder aufgenommen werden.

Die USA waren bereits in den vorausgegangenen Monaten von massiven Cyberangriffen erschüttert worden. Im März wurde ein Angriff auf Microsofts E-Mail-Dienst Exchange öffentlich, Berichten zufolge waren davon mindestens dreißigtausend Organisationen in den USA betroffen. Eine im Dezember aufgedeckte Attacke, bei der die Software des US-Unternehmens SolarWinds eingesetzt wurde, betraf Tausende Regierungsrechner und private Netzwerke.

Es sind mehr Schadensfälle bekannt. Im Mai 2017 legte der Erpressungstrojaner  WannaCry Computer in vielen Krankenhäusern sowie Fahrplananzeigen der Deutschen Bahn lahm, wenige Wochen darauf bedrohte die Lösegeld-Software NotPetya unter anderem die Reederei Maersk sowie den Nivea-Hersteller Beiersdorf.

Die Dinge werden unübersichtlich, sagte Tilman, es werde Zeit, den Nutzen der Digitalisierung zu beziffern und ihn gegen die entstandenen Kosten aufzurechnen.

Susanne lächelte, schenkte Tee nach und trank einen Schluck. Ein heißes Eisen, sagte sie, und du kannst davon ausgehen, daß die meisten Schäden gar nicht öffentlich bekannt werden, die Dunkelziffer, wie es so verbrämt heißt, sei hoch.

Absolut, sagte Tilman, wie auch immer, allein der Imageschaden wäre enorm, auch der Bundestag war Ziel von Hackerangriffen.

Und wie stellst du dir vor, den Schaden zu berechnen? Bei dem Brand im Rechenzentrum in Straßburg vor wenigen Wochen ließe er sich in Geldwert bestimmen, aber wie sieht es mit den Folgen übermäßigen Surfens bei Kindern und Jugendlichen aus? Welche seelischen Konsequenzen hat das Mobbing in den sozialen Netzwerken, der Konsum von Pornografie?

Ein schwieriges Feld, Susanne.

Wie willst du das Ausdünnen der Einkaufszentren bewerten? Welchen Schaden richtet ein Konzern wie Amazon an? Er zerstört gewachsene Existenzen? Oder ist das der gewöhnliche Verdrängungswettbewerb des Marktes, survival of the fittest, mit dem wir uns abzufinden haben? Was unternimmt die Politik?

Kannst du vergessen. Das ist kein Thema für öffentliche Debatten.

Und was sagst du? Willst du immer noch Kosten und Nutzen einander gegenüberstellen?

Das wird kompliziert, denn die digitalen Entwicklungen sind von Tag zu Tag weniger überschaubar, jeweils neueste Start-ups verändern die Geschäftsgrundlagen, nationale Grenzen spielen kaum eine Rolle, die Lage ist unübersichtlich, der Staat täte gut daran, das rücksichtlose Agieren der Internet-Saurier rigoros zu regulieren, und wahrscheinlich ist, wie es vielversprechend heißt, die internationale Gemeinschaft gefragt.

Wäre staatliche Aufsicht eine geeignete Maßnahme?

Wie in China? Nein, China ist da kein Vorbild, Susanne, absolut nicht. Doch es ist vieles denkbar.

Sprachpolizei?

Bestimmt nicht, nein, keine Sprachpolizei. Eher schon das Verbot irreführender Adressenangaben, die Reduzierung der Wetten und Glücksspielaktivitäten, etc. p. p. Aber bevor das geschieht, wird das Internet sich selbst die Kante geben, jede ohne Ende boomende Technologie steuert auf ihren Kollaps zu, ihr Energieverbrauch ist immens, Kollateralschäden sind unvermeidlich, destruktive Aktivitäten nehmen zu, die Gefährdung durch den Klimawandel läßt sich nicht ignorieren, da kommt eine Menge auf uns zu.

Orkane? Überflutungen? Stromausfälle?

Sicher, und die Konsequenzen sind unabsehbar. Am Einzelfall wäre eine Kosten-Nutzen-Rechnung relativ einfach anzufertigen, doch die Zeit drängt, Susanne, und es dürfte sinnvoller sein, über einzelne Maßnahmen zu befinden, die den digitalen Aktivitäten strenge Grenzen ziehen.

Susanne schenkte Tee nach und lehnte sich zurück. Sie war mit den digitalen Strukturen nicht sonderlich vertraut, doch es dürfte außerordentlich schwierig sein, diese Abläufe in geordnete Bahnen zu lenken, jedes Unternehmen war auf sich gestellt, die Aktivitäten verliefen in einer Grauzone, und es blieb im Verborgenen, wie weit staatliche Initiativen zur Koordinierung beitragen könnten.

| WOLF SENFF

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Ein Buch wird zum Menü

Nächster Artikel

Idyll mit Käsebroten und Klopapierrollen

Weitere Artikel der Kategorie »Kurzprosa«

Eldin

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Eldin

Eldin eine Ikone der Moderne, fragte der Ausguck – wie solle das gehen? Er sei ein guter Erster, bei allem, was recht sei, doch sieh ihn dir an: ein Lulatsch, ausgezehrt, man möchte ihm nicht im Dunkel begegnen, ein Hungerhaken.
Du bist grob, Ausguck. Seine Stimme flößt jedermann Respekt ein, und auf Scammons ›Boston‹ wird ihm niemand am Zeug flicken, er funktioniert wie geschmiert.
War er immer so?
Er war immer so. Du wirst damit geboren, Ausguck, ein solcher Charakter fügt sich in die Abläufe des Maschinenwesens, verstehst du.

Lesen und Leben

Kurzprosa | Arche Literaturkalender 2019 Auch in diesem Jahr vereint der alljährlich erscheinende Literaturkalender des Schweizer Arche Verlags unter dem Motto »Lesen und Leben« alte und neue, illustre und weniger illustre Dichter und Literaten.Von BETTINA GUTIERRÉZ

Macher

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Macher

Der Mensch ist ein Macher, verstehst du, sagte Farb, packen wir’s an, verstehst du, der Russe, der Bomben wirft, ist da nur eine Spitze des Eisbergs, ein Macher in Reinkultur, er hat etwas vor und führt es bedenkenlos aus, und der Ukrainer, der steht ihm in nichts nach, Männer, sie zündeln, wie soll das enden.

Tilman lächelte. Romane ließen sich schreiben, sagte er, über diese Kultur der Macher, trial and error, hieß es vor Jahren noch herablassend und rief in Erinnerung, daß jedes Tun wohlüberlegt sein müsse.

Auch sorgfältig geplantes Handeln könne sich als Fehler erweisen, wandte Annika ein.

Auf der Suche nach Robinson Crusoe

Kurzprosa | Jonathan Franzen: Weiter weg 21 recht unterschiedliche Texte vereinen sich in Jonathan Franzens Essayband Weiter weg, und doch verbindet sie fast alle etwas miteinander – die Gedanken an den 2008 verstorbenen Freund und Autor David Foster Wallace. Aber auch die Liebe spielt eine Rolle, die Liebe zur Literatur, zu einer Frau oder zu Vögeln (Franzens große Leidenschaft). Der Autor gewährt tiefe Einblicke und lädt ein, über sich und das Leben zu reflektieren. Von TANJA LINDAUER

Wenn der Sprachlehrer zur Spitzhacke greift

Kurzprosa | Javier Marias: Keine Liebe mehr »Je älter ich werde, desto weniger Gewissheiten habe ich«, erklärte der spanische Schriftsteller Javier Marías kürzlich in einem Interview. Vor ziemlich genau zwanzig Jahren war er nach Erscheinen der Übersetzung seines Romans ›Mein Herz so weiß‹ von Marcel Reich-Ranicki im »Literarischen Quartett« des ZDF für den deutschen Sprachraum entdeckt worden. Von PETER MOHR