A Match Made In Heaven

Musik | Ornette Coleman: Ornette!

Zeitreise ins Jahr 1962 des Free Jazz: Vor 55 Jahren veröffentlichte Ornette Coleman ›Ornette!‹. Ein Rückblick von TINA KAROLINA STAUNER

Coleman Ornette»Turning first to Freud, we find that poetic imagiation and creativity are typically presented in terms of phantasy, daydreams and nocturnal dreaming.« (aus ›On Poetic Imagination: Sigmund Freud and Martin Heidegger‹, ›Freud and the Artist‹, Sunnie D. Kidd)

Eintauchen in die Vergangenheit: Folge den Saxophonmelodien von Ornette Coleman… Nimm beispielsweise, selbst wenn aus seinem beeindruckenden, voluminösen Oevre, das eher weniger spektakuläre ›Ornette!‹, herausgebracht im Jahr 1962. Gelbtürkisfarbenes abstraktes Cover mit experimentellem Ornetteschriftzug. Mitmusiker von Ornette Coleman (1930 – 2015) waren bei den Aufnahmen 1961 Don Cherry, Scott LaFaro, Ed Blackwell. Free Jazz auf der Schwelle zu Harmolodics. Musikstücke mit zwar traditionsbezogenen Elementen doch im Grunde konsequente Innovation. Wie nur Monate vorher u.a. mit den Aufnahmen zu »Free Jazz« begonnen worden.

»Something quite different is happening…«

Ornette Colemans Saxophon war vom ersten Hören an für mich etwas Entscheidendes, Essenzielles, wofür es keine Alternative gibt und wahrscheinlich auch nicht geben wird. Da passiert etwas Unersetzbares in einem ganz besonderen, zeitlosen Raum. Anders die sozusagen einfach cool zu sein scheinenden Baß-, Schlagzeug- und Trompetensoli der Band, die wie eine hübsche Zeitreise über Jahre zurückwirken. ›Ornette!‹ war das 7. Album des Musikers.

Natürlich sind wir immer einerseits in die-Geschichte-wiederholt-sich-selbst… In der Harmolodic Colemans jedoch herrscht andererseits eine andere Zeitrechnung, gelten andere Gesetze. »I’ve known people of whom it can be said they have never lost their sense of rage. But rarer, and therefore more in tune with the life forces of the universe, are those like Ornette, who have never lost their sense of wonder«, schreibt Nat Henthoff auf dem Cover. Die Songtitel von ›Ornette!‹ sollen Abkürzungen sein, die sich auf Veröffentlichungen Sigmund Freuds beziehen: ›Totem and Taboo‹, ›Wit and its Relation to the Unconscious‹, ›Civilization and its Discontents‹ und ›Relation of the Poet to Day Dreaming‹. Jazzer waren und sind immer wieder Tagräumer in ihrer Eigenwelt voller Wunder.

»Freud distinguishes between two different ways of beeing a poet: 1) there ist the poet who takes over the material ready made for the work to be created 2) there is the poet who creates material for the work spontaneously.« (Sunnie D. Kidd) Mit seiner Musiktheorie Harmolodics wagte sich Ornette Coleman sogar an eine eigene Musikästhetik und Musikpoesie.

»It interests me more to have a human relationship with you than a musical relationship. I want to see if I can express myself in words, in sounds that have to do with a human relationship. At the same time, I would like to be able to speak of the relationship between two talents, between two doings. For me the human relationship is much more beautiful, because it allows you to gain the freedom that you desire, for yourself and for the other.« Mit diesen Worten endet das Interview, das Jacques Derrida am 23. Juni 1997 mit Ornette Coleman in Paris führte. Coleman hielt sich damals im La Villette auf, einem Museums- und Aufführungszentrum und brachte Stücke im Trio, mit Prime Time und mit Orchester auf die Bühne.
Am 26.11.15 war er damit beim Jazzfestival Saalfelden auf der Bühne.

Der Poststrukturalist und Dekonstruktivist Jacques Derrida konnte ihm im Gespräch, das als ›A Match Made In Heaven‹ zu lesen ist, »brilliant little nuggets« entlocken. Colemans Musikphilosophie ist auch eine Weltphilosophie.

| TINA KAROLINA STAUNER

Ornette Coleman: Ornette!
Rhino (Warner)
| Erwerben Sie diese CD portofrei bei Osiander

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

The Abstraction Game

Nächster Artikel

Polaar Grooves For Icy Teens: An Interview With Maud Geffray

Weitere Artikel der Kategorie »Platte«

Dreaming Of The Apocalypse Girl: June’s New Albums Pt. One.

Music | Bittles’ Magazine: The music column from the end of the world There is a curious, yet electrifying mix of light and dark in this month’s new album releases! For every piece of sunny Balearic brilliance there is an angry scream into the night. For every slice of languid chill-out there is a funky guitar lick, or a hammering techno beat. All of which makes June a fantastic time to own a working pair of ears. By JOHN BITTLES

Folkdays aren’t over… Emily Barker

Musik | Emily Barker: The Toerag Sessions Emily Barker und The Toerag Sessions ist Songwriting pur ohne Beteiligung ihrer Bandprojekte The Red Clay Halo und Vena Portae: das neue Album bietet schlicht aber überzeugend Stimme, akustische Gitarre und Mundharmonika. TINA KAROLINA STAUNER hat es gehört

»Es ist wie Spiegel …« – Kollegahs letztes Album

Musik | Kollegah: Still King

Ohne Ankündigungen veröffentlichte Kollegah am 14. Juni 2024 eine neue Single inklusive aufwändigen Video. Wer sich mit seiner Diskografie auskannte, wurde bei dem Singlenamen Sigma sofort hellhörig. Das nach wie vor erfolgreichste klassische Deutschrap-Album King von 2014 zeitigte als erste Singleauskopplung Alpha . Das Outro hieß Omega . Und Fans kamen nun mit Sigma voll auf ihre Kosten: in Text und gar Videoumsetzung knüpfte es an Alpha an, nur reifer, erwachsener, entspannter, versöhnender. Am Ende des Videos erschien die Einblendung, welche Fassungslosigkeit auslöste: das angekündigte Album sollte das letzte sein. Grund genug, dem Album mit den Ohren des Medienhistorikers zu lauschen. Es geht hierbei nicht darum, Kunst bewerten zu wollen. Kunst ist subjektiv. Es geht um eine neutrale Einordnung des letzten Kollegah-Albums in dessen Werdegang. Von DR. DANIEL MEIS

Conrad Reloaded

Hörbuch | Joseph Conrad: Herz der Finsternis

Der österreichische Michael Köhlmeier hat aus Joseph Conrads berühmtester Erzählung ein extrem verdichtetes Hörspiel mit Licht- und Schattenseiten gemacht. Von SEBASTIAN KARNATZ

What‘s That Sound?

Bittles‘ Magazine | Record Review When I tell you that there is lots of great music coming out this month I am not just saying this because I have been given lots of huge bribes. It is actually true! That is why, this month, the new album reviews will be spread out over two whole weeks instead of the usual one. By JOHN BITTLES