Knollennasen und gebrochene Identitäten

Comic | Matthias Lehmann (Texte und Zeichnungen): Die Favoritin

In hoher Frequenz ist inzwischen auch die Kunstszene dazu gezwungen, laut »Gender« zu rufen und mit einem kruden Konstruktivismus respektive der ›political correctness‹ dem Publikum auf die Nerven zu gehen. Umso erfreulicher ist es, wenn eines der Werke, die sich mit dem Geschlecht und seinen sozialen Konstruktionen beschäftigen, einmal unaufgeregt, vielschichtig und mit viel Phantasie der Thematik annimmt und unter den Genderisten vor allem deswegen positiv hervorsticht, indem auch andere soziale Konfliktlinien behandelt werden. Die Rede ist von Matthias Lehmanns neuem Comic ›Die Favoritin‹, der von einer isolierten Kindheit in der französischen Peripherie erzählt und ein mehrgeneratives Sittenporträt abgibt. PHILIP J. DINGELDEY hat sich den verspielten Graphic Novel für Jugendliche angesehen.

die-favoritin_9783551728166Hauptperson ist das Kind Constance, das bei den reichen Großeltern aufwächst. Eine Tochter des alten Ehepaars, die jedoch nicht als Mutter von Constance identifiziert wird, ist schon als Jugendliche unter mysteriösen Umständen verstorben. Als vermeintliches Waisenkind wächst Constance in der großen Villa der Großeltern isoliert auf, jeder Kontakt mit Gleichaltrigen ist ihr verboten, und regelmäßig wird sie von der psychotischen Großmutter tyrannisiert und instrumentalisiert, während der alkoholkranke Großvater Émile lieber Gustav Mahler hört. Émile ist zwar ganz nett zu Constance, aber er billigt die Misshandlungen am Kind; er ist also ein Mann, der gleichzeitig Opfer der Tyranneien der Ehefrau und dem Zwang, seine eigene Homosexualität zu verbergen, sowie Mittäter am Missbrauch durch Passivität ist.

Constance versucht sich das Leben erträglich zu machen, indem sie ihrer Phantasie freien Lauf lässt und in ihre Spiele die Hauskatze integriert. Das alles gerät aus dem Ruder, als die neue Gärtnerfamilie andere Kinder mit auf das Anwesen bringt, Constance sich verliebt und versucht, sich über das Kontaktverbot hinwegzusetzen beziehungsweise aus der Isolation auszubrechen. Schnell stellt sich dann heraus, dass Constance eigentlich ein Junge ist, der von der Großmutter gezwungen wird, Mädchenkleider zu tragen und sich wie ein Mädchen zu verhalten.

Erstaunlicherweise geht es hier also nicht um den konventionellen Gendertopos, dass ein Mensch mit dem falschen biologischen Geschlecht geboren wird, sondern vielmehr ein Junge per Diktat und Normierung durch sein Umfeld zum Mädchen gemacht wird – was Simone de Beauvoirs Aussage, man werde nicht als Frau geboren, sondern dazu gemacht, auf bizarre Weise bestätigt. Constance wird dadurch psychosexuell extrem verwirrt, kann zeitweise das eigene Gender gar nicht wirklich definieren, besonders als sie mit den Kindern der Bediensteten konfrontiert wird. Damit sind bereits die drei großen sozialen Topoi, die Lehmann hier kombiniert, genannt. Denn keinesfalls geht es nur um die erzwungene Identität eines Geschlechts, das hier jedoch einmal zur Unterdrückung der Maskulinität und eines männlichen Subjektes führt; nein, denn damit ist auch der Klassenkonflikt beinhaltet. Die eher ungehobelten und verarmten Kinder gängeln Constance zuerst dafür, dass er/sie privilegiert aufwächst, sodass er/sie auch hier gespalten wird, zwischen dem (sexuellen) Interesse an Gleichaltrigen und den aristokratischen Parolen von Émile. Der dritte große Topos ist dann natürlich der Konflikt zwischen den Generationen, also die Macht der reichen, älteren und stärkeren Schutzbefohlenen, die diese skrupellos instrumentalisieren, damit ein Kind, bar jeder eigenen Individualität, nach dem Willen der Alten geschaffen und versklavt werden kann. Damit vereint Lehmann auf wenig Raum eine zunächst eher bieder daher kommende, sich aber bald ins Krasse entwickelnde Geschichte zwischen Geschlechtern, Klassen sowie Generationen und zeigt die Abgründigkeit von Macht, Gewalt und Zwang.

Alte Kinderbuchillustrationen und Phantasiespiele

Die eigentlich außerordentlich tragische Handlung, die noch so manche andere abgründige Wendung parat hält, wird aber noch übertroffen durch Lehmanns Zeichenstil und Perspektive. Er scheint ein zeichnerischer Meister der Hyperbel und des Grotesken zu sein. Die Protagonisten sind beispielsweise gezeichnet wie in einem Cartoon für Kinder: mit großen Knollennasen, nicht unbedingt immer detaillierten Gesichtszügen und anatomisch überspitzt inszeniert. Das wirkt nicht zwar bizarr und teils naiv, in Anbetracht der grauenvollen Geschichte, aber passt doch gut in den Rahmen des Comics. Denn diese Darstellung fügt sich auch in gestörte Wahrnehmung von Constance als Erzählerin. Er/sie hat natürlich eine kindliche Wahrnehmung, die extrem gestört wird, durch die gewalttätigen Umdeutungen der eigenen Identität. Lehmanns Tuschezeichnungen erinnern dabei vor allem stilistisch an die frühesten Comics und Kinderbuchillustrationen des 19. Jahrhunderts. Das passt auch wieder in gewisser Weise, wird doch Constance von den reaktionären Großeltern wie eine Aristokratentochter aufgezogen.

Aufgelockert und ironisiert wird das Werk zeichnerisch durch die Phantasieausflüge des Protagonisten, in der mal eine männliche, mal eine weibliche Rolle eingenommen wird, vom Ritter bis zur bevorzugten Mätresse des Königs, wobei Letzteres wiederum eine Metapher der Rolle ist, die Constance als Ziehkind ausführt. Gerade diese Perspektivenwechsel in Constances Beschreibungen sind das eigentliche Highlight der ›Favoritin‹; denn sie verleihen dem Graphic Novel nicht nur eine stilistische und thematische Vielschichtigkeit, sondern zeigen auch, wie Constance sein/ihr Schicksal lange Zeit für gegeben erachtet und mit Phantasie und kindlicher Naivität zu kompensieren versucht.

›Die Favoritin‹ als soziales Wechselspiel der konfligierenden Topoi Gender, Klasse und Generation ist damit als Chronik eines Verbrechens zu erachten, jedoch nicht in einem empörten politisch-korrekten Stil, sondern aus der viel wirksameren und eindrucksvollen subordinären, aber erstaunlich unaufgeregten Perspektive von Constance, unterstrichen mit den grotesken und hyperbolischen nostalgischen Tuschezeichnungen, die Lehmanns Graphic Novel zu einem kleinen Meisterwerk machen.

| PHILIP J. DINGELDEY

Matthias Lehmann (Texte und Zeichnungen): Die Favoritin
Hamburg: Carlsen 2016
Hardcover, 160 S., 18,50 Euro

Reinschauen
| Leseprobe

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Wenn der Sprachlehrer zur Spitzhacke greift

Nächster Artikel

Back in the timeline. Das Jahr 1967 in der Musik- und Kulturgeschichte

Weitere Artikel der Kategorie »Comic«

Das Zeichen des Sterns

Comic | L. Dauvillier/M. Lizano/G. Salsedo: Das versteckte Kind Die Vernichtung der europäischen Juden während der Zeit des Nationalsozialismus nicht in Vergessenheit geraten zu lassen, wird immer wichtiger: Sie liegt nun bereits mehr als zwei Generationen zurück und es gilt zu verhindern, dass sie als ein abgeschlossenes Kapitel der Vergangenheit wahrgenommen wird, mit der die Menschen heute nichts mehr zu tun haben. Dem Comic ›Das versteckte Kind‹ gelingt es, das unfassbare Geschehen ganz anschaulich zu machen, findet ANDREAS ALT.

Helden ohne Strumpfhosen

Joe Casey/Piotr Kowalski: Sex 1. Ein Steifer Sommer Ein Superheld lässt seine selbstjustiziare Berufung hinter sich, um ein sogenanntes normales Leben zu führen – inklusive jener weltlichen Versuchungen, die die Welt für Normalsterbliche bereithält. Aber genügt ihm das? Genügt ihm »Sex«? CHRISTIAN NEUBERT wirft einen Blick hinter die abgenommene Maske.

Unheimlich schaurig

Comic | ›Die Unheimlichen‹ im Carlsen Verlag Mit ›Die Unheimlichen‹ erscheint bei Carlsen eine von Isabel Kreitz herausgegebene Reihe klassischer und moderner Schauergeschichten, die von verschiedenen deutschsprachigen Comic-Künstlern interpretiert werden. BIRTE FÖRSTER hat sie sich angesehen.

Wenn Obama die Monopoly-Spieler bedient

Comic | P.Jorion / G.Maklés: Das Überleben der Spezies »Der Kapitalismus und seine Kritik sind doch recht trockene und abstrakte Angelegenheiten – und daher auch nahezu unverständlich.« Falsch! Der Comic ›Das Überleben der Spezies. Eine kritische, aber nicht ganz hoffnungslose Betrachtung des Kapitalismus‹, des Wirtschaftskolumnisten Paul Jorion und dem Zeichner Gregory Maklés beweist gekonnt das Gegenteil. PHILIP J. DINGELDEY hat sich den Sachcomic angesehen.

Hall of Fame des Comics?!

Comic | Internationaler Comic Salon Erlangen 2014: Geschichte des Max und Moritz-Preises Seit 1984 wird alle zwei Jahre auf dem Comic Salon in Erlangen der Max und Moritz-Preis verliehen. CHRISTOPHER FRANZ blickt zurück auf einige der Preisträger, Anekdoten und Skandale der letzten 30 Jahre und 15 oder 16 – so genau weiß man das nicht – Preisverleihungen.