Jugendbuch | Lea-Lina Oppermann: Was wir dachten, was wir taten
Wie handeln Menschen unter extremen Bedingungen, ist eine Frage, deren Beantwortung sich immer wieder aufs Neue für eine Geschichte eignet. Ob die Geschichte auch immer gut ist, ist eine andere Frage. Hier kommt sie auf jeden Fall mit einem cleveren Kniff daher – unter einem ebenso cleveren Titel. Von MAGALI HEIẞLER
Es beginnt an einem ganz gewöhnlichen Vormittag in der kleinen Klasse. Als die Durchsage kommt, dass es ein Sicherheitsproblem gibt, sind die Jugendlichen eher angeregt wegen der willkommenen Unterbrechung des Unterrichts.
Langsam jedoch breitet sich Unsicherheit in dem verschlossenen Raum aus und Ratlosigkeit. Diese wird bald auf die Probe gestellt, und als es einer maskierten und bewaffneten Person gelingt, in das Klassenzimmer einzudringen, ist der schlimmste Fall eingetreten.
Was in den folgenden drei Stunden geschieht, ist ebenso krude wie befremdlich. Die plötzliche Todesnähe verändert alles, was bisher als normal galt. Wie das enden soll, weiß niemand, am wenigsten die Leserin. Schon nach wenigen Seiten ist die Spannung auf ein Höchstmaß gestiegen.
Was kostet Überleben?
Was die sehr junge Autorin (Jg. 1998) erzählt, fordert den Leserinnen viel ab. Es gibt drei unterschiedliche Blicke auf das Geschehen, die zugleich den ständigen emotionalen Wechsel der Figuren wiedergeben. Sie berichten aus der Rückschau, wobei verschleiert wird, wie lange die Ereignisse zurückliegen und ob der Bericht tatsächlich das Ende des Ganzen ist und die Drei überleben.
Der knappe Stil gibt die wachsende Beklemmung gut wieder und macht die schaurigen Höhepunkte mancher Szenen eindringlicher, als es viele Worte geschafft hätten. Die Ausdrucksweise ist nicht immer ganz gelungen, die Neigung zu Pathos (»die« Wahrheit, »die« Gerechtigkeit) bis hin zu Bombast (»teilnahmslos-tote Augen eines Henkers«), ist deutlich. Das ist zum einen die Folge mangelnder Erfahrung der Autorin, nicht nur beim Schreiben, sondern auch im Empfinden. Das richtet die Zeit. Zum anderen ist es Folge der Gewöhnung an die grassierende Phrasendrescherei einer Gesellschaft, in der ständig geredet werden muss, um nur nichts zu sagen. Immerhin klingt es realistisch, Teenager sprechen so. Gute Autorinnen nicht.
Die Charakterisierung aller Figuren ist eher skizzenhaft, man findet die üblichen Klischees. Das ist schade bei einem so anspruchsvollen Thema, hilft jedoch, die zum Teil bizarre Handlung plausibel erscheinen zu lassen. Man starrt gebannt darauf, nichts lenkt ab.
Was dahinter steckt
Oppermann bietet in ihrem Debütroman ein Spektakel voller Gehässigkeit, Ekelerregendem und Gewalt. Das tut sie derart versiert, dass sich ein junges Publikum leicht mitreißen lässt und das Nachdenken und Fragen vergisst. Im Vordergrund breitet sie noch dazu ein Szenario aus, als dessen Quellen sich unschwer nicht nur Goldings Klassiker, sondern auch Aktuelleres, etwa Ashers ›Tote Mädchen lügen nicht‹ oder Jannes Tellers artifizielle Laboranordnungen ausmachen lassen, bis hin zu den Hochglanz-Dystopien, die eine Zeit lang die Bestsellerlisten fluteten. Immer geht es um die persönliche Bewährung versus das persönliche Versagen, überhöhte Heldinnen und Helden oder rundum elende Nieten.
Die angebotene Lösung ist, leider, wieder einmal das rein individuelle Verhalten und die Schuld, die ganz große, versteht sich, die man bei Fehlverhalten, dem ganz großen, versteht sich, auf sich lädt. Gesellschaftliche Bedingungen als Einfluss sind nicht vorhanden, Entwicklungen von Charakter und Persönlichkeit gibt es nicht, bloß die Familienverhältnisse werden ein wenig herangezogen. Sozialkitsch lauert auf der Schwelle. Die Frage von Selbstjustiz, vom Recht auf Gerechtigkeit und dem Verkünden von Wahrheit wird zu lässig abgehandelt. Es gibt stattdessen eine schockierende Auflösung.
Tatsächlich jedoch hat sich in diesem gut geschriebenen, vordergründig gut gedachten und versiert dargebotenen kleinen Debütroman ein besonderes Thema eingeschrieben. So vertraut und stromlinienförmig die Geschichte im Grund ist, wird doch eine Leerstelle sichtbar. Das sind die Erwachsenen. Nicht nur der Lehrer kann diese Position nicht ausfüllen, keiner der Jugendlichen hat eine Stütze in ihnen, gleich, ob Eltern, Großeltern, Verwandte, Bekannte.
Nicht nur kann ihnen kein Erwachsener in ihrer Bedrängnis beispringen. In ihrem Gedanken angesichts des Pistolenlaufs, der auf sie gerichtet ist, sind ihnen Erwachsene nie beigesprungen. Diese jungen Menschen sind kleine Einzelkämpferinnen und Einzelkämpfer, die Rollen ausprobieren, ohne Richtung, ohne Orientierung. Sie sind verletzt, sie sind enttäuscht. Sie sind vor allem ahnungslos und sich selbst überlassen, gleich, wie groß die Bedrängnis ist. Das kann ja nur schiefgehen.
Ein trauriges Bild, das eine junge Autorin heutzutage von der Gesellschaft zeichnet, um so trauriger, weil das gar nicht ihr Thema war. Ganz jenseits der funkelnden Showeffekte und des unreifen Dogmas vom Individualismus only sollte einer dieses Buch zu denken geben.
Titelangaben
Lea-Lina Oppermann: Was wir dachten, was wir taten
Weinheim: Beltz & Gelberg 2017
180 Seiten, 12,95 Euro
Jugendbuch ab 14 Jahren
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