Jugendbuch | Lara Schützsack: Und auch so bitterkalt
Was geschieht in ihrer Familie? Melinda beobachtet. Wie sich die Dinge verändern. Wie sich die Distanz zu ihrer bewunderten älteren Schwester Lucinda vergrößert. Und wie sie nichts gegen das tun kann, was vor ihren Augen geschieht. Von ANDREA WANNER
Lara Schützsack hat einen Jugendroman über Magersucht geschrieben – ohne die Klischees, die das Thema mit sich bringt. Die Geschichte wird konsequent aus der Sicht der jüngeren Schwester erzählt, deren Fragen ohne Antworten bleiben, deren Ratlosigkeit ohne Ausweg ist.
Malina versteht nicht, was vor sich geht. Sie erzählt von dem wunderschönen Haus, in dem die Familie lebt: »dreistöckig und blau, es trägt dicke, weiße Stuckschärpen um den Körper, auf denen fünf Engel sitzen: George, Paul, Ringo, John und Janis.« Es ist ein kindliches Festhaltenwollen an einem Zustand, den es längst nicht mehr gibt. Veränderungen deuten sich an und nichts wird bleiben, wie es ist.
Die Nähe zwischen den beiden Schwestern bringt Wärme in eine Familie, die zwar nach außen zu funktionieren scheint, in Wirklichkeit aber längst aus ungelösten Problemen besteht. Isa, die Mutter, wird als Kontrollfreak beschrieben, mit Augen, die keine sind, sondern »blaue Laserstrahlen, die immer auf der Suche nach dem Fehler sind.« Fehler findet sie viele. Auch an Frieder, ihrem Mann, dem Vater der beiden Mädchen. Lucinda formuliert, dass er einmal ein schöner Mann gewesen sein, nun gebrochen durch Isas Matriarchat. Isa will eine perfekte Familie, die einzige, die mitzuspielen scheint, ist Melinda.
Lucinda entzieht sich dem Macht- und Einflussbereich ihrer Mutter mehr und mehr – ihr größter Triumph scheint dabei die Verweigerung der Nahrung und der gemeinsamen Mahlzeiten zu sein. »Die magersüchtige Frau isst nicht, weil sie mit den anderen nicht spricht. Der Mund, Behälter der Nahrung, ist auch der Ort, aus dem die Sprache und die Worte stürzen.« beschreibt die französische Autorin Patricia Bourcillier, die zahlreiche Projekte mit magersüchtigen Frauen leitete, anschaulich das, was da geschieht.
Lara Schützsack lässt ihre junge Heldin erzählen, ohne die Worte überzustrapazieren. Eine Katastrophe, die sich ereignet, bekommt Raum durch nur wenige Worte auf den weißen Buchseiten. Und durch geschwärte Seiten, wo es für Melinda trotz geöffneter Augen »dunkel« bleibt. Es sind schmerzhafte, unumkehrbare Dinge, die Melinda in ihrem Umfeld erleben muss. Schon bald erkennt sie, dass nicht nur sie hilflos ist, sondern die Dinge auch den Erwachsenen entgleiten. »Meine Schwester hat dunkle Tage«, stellt sie fest. Es werden mehr davon, als der Sommer sich in den Herbst verabschiedet. Niemand erreicht Lucinda, diese junge Frau, die voller Phantasie steckt und in tollkühnen Mutproben ausprobiert, wie weit sie gehen kann. Sie scheint nichts zu verlieren zu haben, spielt nach ihren eigenen Regeln – mit dem Leben, mit Jungs, mit den Gefühlen anderer. Und ist dabei ein unglaublich verzweifeltes, trostloses Geschöpf.
Die Atmosphäre des Buches entdeckt man wieder in dem Film aus dem Jahr 2013 ›Draußen ist Sommer‹, für den Lara Schützsack die Idee liefert und an dessen Drehbuch sie gemeinsam mit Friederike Jehn beteiligt war. Was als »Emotionales Familiendrama über den schmerzhaften Prozess des Erwachsenwerdens« auf der Leinwand beschrieben wurde, findet sich hier mit anderen Figuren und einer anderen Handlung als bewegender Jugendroman. Für den es als Epilog einen zusammengestellten Soundtrack gibt mit ›Girl‹ von den Beatles, ›Über den Wolken‹ von Reinhard Mey, ›Hotel California‹ von den Eagles und vielen anderen Klassikern, die von dem erzählen, was jenseits der Worte liegt. In Erinnerung bleibt Lucindas erfundenes Land Tenebrien, das Land, »in das alle gehen, die nicht für unsere Welt gemacht sind.«
| ANDREA WANNER
Titelangaben
Lara Schützsack: Und auch so bitterkalt
Frankfurt, S. Fischer 2024
176 Seiten. 14,99 Euro
Jugendbuch ab 14 Jahren
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