Wohnen und Leben

Hannes Lindenmeyer: Hellmut. Die lange Geschichte einer kurzen Straße

Die Hellmutstraße bildet das Zentrum des Widerstands. Hannes Lindenmeyer, Hellmi-Aktivist der ersten Stunde, schildert das Innenleben eines Quartiers, das sich zum Ziel setzt, selbstbestimmt zu wohnen, d. h. selbst über die Bedingungen der eigenen Lebensumwelt zu entscheiden. Von WOLF SENFF

Zürich - HellmutstraßeDie Gestaltung des Lebensumfelds darf weder den Verdichtungsinteressen des städtischen Wohnungsbaus noch dem Ansiedlungskalkül von Industrieunternehmen überlassen bleiben. Wie unnachgiebig diese Gestaltungsinteressen sein können, das weiß, wer sich einmal dagegen hat wehren müssen. Wer dann allein ist, steht einsam auf weiter Flur.

Pulsierendes Leben im Quartier

Wir lesen gleichsam die Biographie einer Straße, wir lesen, wie sich ein Organismus formt, wie sich dessen Persönlichkeit ausbildet, sich verändert, etwa wenn die Handwerksmeister nicht länger Stammgäste im ›Pflug‹ sind und neuerdings die von der WG im Blauen Haus dort verkehren – gewiss, das ist wichtig für die Biographie einer Nachbarschaft oder besser sagen wir Kiez, auch Quartier.

Oder wenn wir lesen, dass sich um Carmelo Meo, aus Sizilien zugewandert, Rennfahrer und Velorahmenbauer, eine Veloclique sammelt, die sich auf Urlaubstour nach Südfrankreich dazu hinreißen lässt, sich in Aussicht auf ein Velo-Rennen spontan zur ACRA zu erklären: Association des Cyclistes Revolutionnaires d’Aussersihl. Das klingt nach höchst lebendiger Kiez-Atmosphäre, nach Lebensqualität.

Gentrifizierung und Widerstand

Es geht in Hannes Lindenmeyers »Hellmut. Die lange Geschichte einer kurzen Straße« um Aussersihl, einen Stadtteil Zürichs – Stadtkreis 4 – mit spezieller eigener Historie, eingemeindet 1893 und seitdem mit verschärftem Eigenprofil wahrgenommen. Schon seit jeher war das Gebiet Aussersihl eine Region, in die die Stadt die weniger angenehmen Dinge auslagerte. Das Siechenhaus, der Hinrichtungsplatz, der Galgenhügel – und Abfall und Abwasser wurden in Aussersihl genauso entsorgt wie die Tierkadaver. Später kamen die Fremdarbeiter, das Rotlichtmilieu und Jenische, die den Kreis bis heute prägen.

Seit den siebziger Jahren zogen der günstige Wohnraum und die kulturelle Vielfalt vermehrt Studenten, junge Akademiker, Künstler und Galerien an, was den Kreis 4, zusammen mit aufwertenden Projekten der Stadt, auch für die etablierte Bevölkerung attraktiv machte, und mit der wachsenden Beliebtheit stiegen die Mieten. Die Gentrifizierung setzte ein und der Widerstand gegen sie, Zentrum des Widerstands sind die Bewohner der Hellmutstraße.

Erfolge und Rückschläge

Wir kennen das aus anderen Städten, etwa dem Wohnprojekt Christiania in Kopenhagen, aus der Hafenstraße Hamburg, und wer kurz nachblättert, findet auf Anhieb Informationen zu Hausbesetzungen in Spanien, zu Wohnungsnot in San Francisco, zu Wohnungsbesetzungen in Berlin, es gab, man höre und staune, Wohnungsbesetzungen in der DDR, es gab Mieterstreiks im Berlin der Zwanziger Jahre – letztlich also wenig Neues, wenn wir die Fakten betrachten.

Neu wäre allenfalls, wenn dem Mietwucher seitens der Politik wirksame Grenzen gesetzt würden, und hier und dort findet sich tatsächlich auch das, die bewegte Geschichte der Hellmutstraße ist ein lebendiges Beispiel.

Hannes Lindenmeyer verzeichnet die Erfolge des Widerstands, jedoch auch die Rückschläge, und vor allem konzentriert er seine Darstellung auf das Innenleben, die atmosphärischen Details, an denen ein entspanntes Miteinander der Anwohner der Hellmutstraße kenntlich wird, ein überwiegend entspanntes Miteinander. Halt wie im richtigen Leben. Eine durchweg entspannt zu lesende Lektüre.

| WOLF SENFF

Titelangaben
Hannes Lindenmeyer: Hellmut
Die lange Geschichte einer kurzen Straße
Zürich: Rotpunktverlag 2018
256 Seiten, 37 Euro
| Erwerben Sie dieses Buch portofrei bei Osiander

Reinschauen
| Leseprobe

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Der Mond bekommt euch alle

Nächster Artikel

Delving Into the Honley Civic Archives: An Interview With Thomas Ragsdale.

Weitere Artikel der Kategorie »Gesellschaft«

Katholische Putzfrau gesucht

Gesellschaft | Eva Müller: Gott hat hohe Nebenkosten. Wer wirklich für die Kirchen zahlt Zu den bekanntesten landläufigen Irrtümern gehört die Auffassung, dass in Deutschland Kirche und Staat getrennt sind. Dem ist nicht so, leider oder Gott sei Dank, je nach persönlicher Einstellung. In welche Sackgassen das führen kann, vor allem wenn – wie bei uns – nur noch weniger als zwei Drittel der Bevölkerung einer christlichen Kirche angehören, davon zeugt die Alltagsgeschichte, die Eva Müller in Gott hat hohe Nebenkosten zu erzählen hat. Von PETER BLASTENBREI

Kein Gewinn

Gesellschaft | Martin Gessmann: Wenn die Welt in Stücke geht Ab und zu geschieht es eben doch, dass man aufgrund des Titels auf ein Buch aufmerksam wird, man sollte sich das abgewöhnen. Aber es liegt im Trend, dass Philosophie sich an eine interessierte und wenig oder kaum philosophisch vorgebildete Öffentlichkeit wendet, neuerdings präsentiert sich der Philosoph gerne auch via Flachbildschirm. Ob das wohl gut geht? Von WOLF SENFF

Fabriken der Biotechnologie

Gesellschaft | Bernard Lown: Heilkunst. Mut zur Menschlichkeit Da scheiden sich die Geister – es immer wieder eine denkwürdige Erfahrung, dass öffentliche Aussprache über Medizin hierzulande üblicherweise nach den Vorgaben und Regeln einer übermächtigen Gesundheitsindustrie erfolgt. Was jenseits dieses regulierten Territoriums stattfindet, dringt nicht durch. So erscheint auch der hier rezensierte Band in einem medizinischen Fachverlag, einer Nische, und gewinnt nicht die Öffentlichkeit, die er von vornherein verdient hätte. Von WOLF SENFF

Der Einsturz des Himmels‹ in der Musik

Musik | Ethno und Neue Musik featuren Themen wie Regenwald und Amazonasgebiet Durch europäische Neue Musik transformierte Klänge indigener Bevölkerung, der Natur und des Klimas – Zwei Musikprojekte über den Regenwald: Martina Eisenreich mit ›Rainforest‹ im Jahr 2016 und die Biennale München mit der ›Amazonas-Multimedia-Oper‹ aus dem Jahr 2010. Von TINA KAROLINA STAUNER

Unruhe in Europas Hinterhof

Gesellschaft | Marc Engelhardt: Heiliger Krieg – heiliger Profit Vor Somalia ist die Bundesmarine präsent, in Darfur und im Südsudan die Bundeswehr zu Land, seit neuestem auch in Mali. Geht es nach Frau von der Leyen wird sie demnächst auch in der Zentralafrikanischen Republik aktiv werden. Warum das am Ende sogar nötig sein könnte, will uns Marc Engelhardt in »Heiliger Krieg, heiliger Profit« sagen. Von PETER BLASTENBREI